Zwei Jahre ist es her, dass sich die Marburger Illustratorin und auf Spielzeuggestaltung spezialisierte Designerin Annegret Ritter in einer nicht touristischen Ecke Lissabons einmietete, um sich unter die Einheimischen zu mischen und das Lebensgefühl der portugiesischen Hauptstadt auf sich wirken zu lassen. Dass daraus „Quiosques de Lisboa“ entstehen würde, stand anfangs nicht auf dem Plan. Nun ist ihr buchgewordener Skizzenblock nicht nur ihr erstes Buch für Erwachsene, sondern auch ein mit sehr persönlichen Eindrücken gespickter Wegweiser zu den Besonderheiten der europäischen Metropole Lissabon.
Vom Flair der Stadt inspiriert spazierte Ritter tagaus, tagein mit Skizzenbuch und Stift durch die schmalen, verwinkelten Gassen und über die weitläufigen Plätze an touristische wie nicht touristische Orte, machte Rast in Cafés und Restaurants, vor allem jedoch an den bunten, verspielten schmiedeeisernen Stahlkonstruktionen, die der Stadt so eigen sind: den Quiosques de Lisboa. In jedem Stadtteil stieß sie auf diese freundlichen Inseln, die Touristen wie Einheimischen eine Oase sind, um der Großstadthektik zu entkommen, einen Kaffee zu trinken, sich eine Stärkung zu gönnen oder das Feierabendbier zu genießen. Für die Autorin dieses Buches waren sie letztlich mehr noch als Oasen, sie waren Quellen der Inspiration und wurden somit Movens für eine Hommage auf Lissabon.
Die Stadtführung beginnt in Belém am Tejo, dem Stadtteil Lissabons, von welchem aus die portugiesischen Seefahrer einst ihre Reisen antraten, führt durch eine Vielzahl der bekannten und weniger bekannten Stadtviertel und endet erneut am Ufer des Tejo, auf dem pompösen Platz Praça do Comércio, wo einst der Königspalast stand. Jedem Stadtteil ist ein Kapitel gewidmet und einleitend eine skizzierte Karte beigefügt, in die Ritter die gezeichneten und beschriebenen Kioske markiert und beschrieben hat – schließlich gestalten sich die von der französischen Architektur inspirierten Stahlinseln alles andere als uniform: von Kaffee bis Cocktails, von Sandwiches bis Sushi und Meeresfrüchten, von Postkarten und Fahrscheinen bis hin zu Büchern gibt es kaum etwas, das man nicht in einem der Quiosques erhält.
Die Darstellung der titelgebenden Quiosques konzentriert sich auf diese einleitenden Teile des jeweiligen Kapitels, bleibt jedoch selbstredend nicht darauf beschränkt, denn als zentrale Elemente der Stadt, finden sich die Quiosques auch in anderen Impressionen wieder. Sie sind nur eine der vielen kleineren und größeren Besonderheiten der Stadt, die Ritter dem Leser nahebringen möchte.
Mit knappen Worten umreißt die Autorin in jeder Kapiteleinleitung die zentralen Wesensmerkmale eines jeden Stadtteils, bevor sie den Leser im Folgenden anhand von Zeichnungen, persönlichen, handschriftlichen Notizen und Erinnerungsstücken wie Fotografien, Servietten, die das Emblem eines bestimmten Lokals tragen und Quittungsbelegen an Strände, in Markthallen, durch Gassen, Straßen und Plätze an den mannigfaltig farbigen Häuserfassaden entlang zu Kiosken, in Cafés und Restaurants, ja sogar mit an ihren Tisch, entführt, um jede noch so kleine Impression mit ihm zu teilen.
„Im Grunde reist man am besten, indem man fühlt.“ – beendet Ritter ihren Prolog mit einem Zitat Fernando Pessoas und nimmt den Leser mit auf eine wahrhaft gefühlvolle und sehr persönliche Reise. Es ist nicht schwer, die Emotion, von der sich die Autorin dieses liebevoll verspielten und intim gestalteten Buches hat einnehmen lassen, nachzuvollziehen. Denn Ritter lässt den Leser von „Quiosques de Lisboa“ nicht nur am Schaffensprozess des Buches, sondern auch an ihren ganz privaten Erlebnissen und Erinnerungen teilhaben. Etwa an ihrer ersten, für Einheimische verständlichen, Bestellung auf Portugiesisch oder an einem Kinobesuch an einem regnerischen Tag. Sie beschreibt die Geräuschkulisse, lässt sie hier und da in Form von Liedtexten traditioneller portugiesischer Volkslieder und Fado-Liedern, sowohl in der Originalsprache als auch in deutscher Übersetzung, Eingang in ihre Skizzen finden; hält Wetter und Tageszeiten sowohl verbal als auch visuell fest. Sie imaginierte, wie Fernando Pessoa in seinem Stammcafé inmitten des Feierabendtrubels sitzt, ergänzt ihre Zeichnungen um Zitate des portugiesischen Dichters und schafft dabei mit sehr einfachen Mitteln, mal mit sanftem Pinselstrich, mal mit härteren Zeichenstrichen, einen dichten und eindringlichen Stimmungsraum. In ihre zum größten Teil mit schwarzem Fineliner angefertigten Zeichnungen, unter die sich nur wenige mit Kohlestift gezeichnete Bilder mischen, setzt sie mit Aquarellfarbe an einzelnen Stellen (oft nur ein)farbige Akzente.
Die Kombination aus getipptem Text, handschriftlicher Notiz, gezeichneter Illustration und Erinnerungsobjekten verleiht den einzelnen Bildern nicht nur einen collagenartigen Charakter, sondern macht sie selbst zu einem Erinnerungsobjekt. Die Fotografien und Erinnerungsstücke sind subtil ins Bild eingefügt und stehen in farblich perfekt abgestimmtem Einklang mit den übrigen Bildelementen, so dass sie sich nahezu nahtlos eingliedern. Auch Ritters Notizen, die mal vertikal, mal horizontal über oder unter, zuweilen auch inmitten der Skizzen im Bild stehen, werden zu subtilen Versatzteilen.
„Quiosques de Lisboa“ ist kein Reiseführer. Das Buch leistet jedoch etwas Wichtiges, das ein Reiseführer nur sehr selten vermag: Es lenkt den Blick des Lesers weg von den gängigen Touristenattraktionen, hin zu den feinen Eigenheiten und atmosphärischen Besonderheiten, die den Charakter der Stadt tatsächlich auszeichnen. Detailverliebt, aber ohne den Leser mit Informationen zu überhäufen, hat Ritter ein unaufdringliches, die Sinne schärfendes und charmantes Plädoyer dafür geschaffen, (nicht nur) in einer Stadt wie Lissabon innezuhalten und den Blick auch auf das zunächst Unscheinbare und Gewöhnliche zu richten.
Cover & Abbildungen © kunstanst!fter Verlag
- Autor: Annegret Ritter
- Titel: Quiosques de Lisboa
- Verlag: kunstanst!fter Verlag
- Erschienen: 10/2016
- Einband: Hardcover
- Seiten: 152
- ISBN: 978-3-942795-42-5
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Wertung: 13/15 dpt