Nur wenigen Filmen wird die Ehre zuteil, als Maßstab für das ihnen Nachfolgende zu dienen. Seit 1999 lechzt das Horrorgenre nach einem Meisterwerk und auch wenn es in den letzten Jahren wieder bergauf mit der Qualität der Genrebeiträge geht, hat der Zeittest doch bewiesen, dass keiner der gehypten Streifen es zum neuen „The Blair Witch Project“ gebracht hat. Was also tun, wenn die Fußstampfen in Übergröße unausgefüllt bleiben? Man versucht sie zu konservieren und mitunter etwas aufzuhübschen, man sucht aber mit Sicherheit nach lukrativen Weiterführungspfaden, die aber nicht allzu weit vom bewährten Pfad abweichen sollten, um sich bloß nicht im Dickicht des schlechten Geschmacks zu verirren. Wider besseres Wissen um die Gefahr dieser Methoden, werden sie doch im Fall von „The Blair Witch Project“ gerade wieder praktiziert statt den möglichen dritten Weg zu gehen, den die vielversprechenden Horror-Newcomer der letzten Jahre gewiesen haben – auch ohne Meisterwerk-Siegel.
Zum einen läuft am 6. Oktober mit „The Blair Witch“ (in Deutschland sogar „Blair Witch Project 3“) der nunmehr dritte Teil der Reihe an, die eigentlich gar keine Reihe ist. Schon auf Teil zwei hatten die Macher David Myrick und Eduardo Sánchez trotz ihrer Executive Producer-Position kaum Einfluss und konnten deswegen nicht verhindern, dass schon ein Jahr nach dem Original etwas veröffentlicht wurde, das ohne Umschweife als eines der schlechtesten Sequels der Filmgeschichte zu bezeichnen ist. Eineinhalb Dekaden später wurde ursprünglich eine andere Herangehensweise an den Blair Witch-Stoff gewählt, schlussendlich wurde aus „The Woods“ dann aber doch „Blair Witch“ und wenn den Kritikerkollegen Glauben zu schenken ist, gibt es höchstens Durchschnittskost zu sehen.
Flankiert wird dieser lauwarme Aufguss von einer Kampagne seitens Studiocanal, das die Heimkino-Rechte am Original hält. Ebenfalls am 6. Oktober erscheint die DVD-Version erstmals in einer Remastered-Fassung, außerdem wird die Blu-ray-Variante, die vor drei Jahren ihre Premiere feierte, neu aufgelegt. Eigentlich eine nette Idee, ginge es nicht um „The Blair Witch Project“, einem Film, der eigentlich als VHS (wie es ihn tatsächlich noch zu kaufen gibt), nein, als Tape auf dem eigenen Camcorder konsumiert gehört. Jedwede Verfeinerung des penibel unsauber gehaltenen Materials ist prinzipiell zu verneinen und bleibt – wie der Test zeigt – zum Glück ohne Effekt. Hier müsste dann auch das Ende der Fahnenstange erreicht sein, eine 3D-Aufmöbelung scheint nicht möglich zu sein.
Was spricht also gegen den Vorwurf, es handele sich um einen typischen Ausschlachtversuch? Die alte DVD-Version hat zwar schon ein paar Tage auf dem Buckel, einen Engpass steht auf den ersten Blick aber nicht zu befürchten. Eine Blu-ray wiederum bietet zwar deutlich mehr Platz, gewinnbringend genutzt wird dieser hier aber nicht. Von der DVD unterscheidet sich die Bonus-Ausstattung in keiner Weise. Gegen die Bonusinhalte selbst ist dagegen nichts einzuwenden. Gerade die authentische Dokumentation über die Hintergründe des Mythos ist – wenn auch teilweise etwas staksig geschauspielert – eine interessante Ergänzung zu den Hintergründen, die die Regisseure seinerzeit zum Gesamtkunstwerk „Blair Witch Project“ zusammengefügt haben.
Aus heutiger Sicht könnte das ein Anreiz sein, sich mit dem „Blair Witch-Mythos“ auseinanderzusetzen, der einmal mehr war als nettes Beiwerk. Das Wissen darüber, dass der Film das Herzstück einer mysteriösen Internetkampagne darstellte, die selbst zu einem zentralen und einmaligen Gruselfaktor avancierte (und nebenbei die Werbeindustrie revolutionierte (Stichwort: viral)), geht als Facette des Werks immer mehr verloren. Auch aus dieser Perspektive leuchtet es deshalb wenig ein, warum nicht in eine umfangreiche Fassung investiert wird, die den Geist des Gesamtprojekts einzufangen versucht. Die einzige „Special Edition“ ist eine stark limitierte Variante, die zurzeit zu dementsprechenden Preisen gehandelt wird. Diese fast schon pädagogische Aufgabe stellt sich auch deswegen, weil sich seit 1999 nur wenig verändert hat.
In einem ebenfalls zum Bonusmaterial gehörenden (leicht skurrilen) Interview geben die Regisseure als Grund für ihren „alternativen Horrorfilm“ an, dass sie sich von den Genrebeiträgen der vorangegangenen Jahre gelangweilt fühlten: Zu viel Splatter, zu viele billige Schocker-Momente, keine Atmosphäre. Eine Beschreibung, die einem heute immer noch allzu bekannt vorkommen dürfte. Die großen Studios halten sich an die altbekannte Formel und bekommen auch noch dadurch recht, dass sie trotz zum Teil zerreißender Kritiken zufriedenstellende Ergebnisse einfahren. Es ist ein wenig, wie mit den Comic-Verfilmungen, von denen es heutzutage immer mehr in immer kürzeren Abständen zueinander zu sehen gibt: Der Zeitdruck wird so hoch, dass die Qualität auf der Strecke bleibt, doch trotzdem scheinen ausreichend Menschen der reine Effekt zu genügen.
Nur wenig scheint daraus gelernt worden zu sein, was „The Blair Witch Project“ so meisterhaft gelang. Mit den einfachsten Mitteln schaffte das kleine Team ein filmisches Dokument, das seinen Gruselwert statt aus furchterregenden Kreaturen aus seiner authentischen Atmosphäre und zahlreichen Andeutungen zieht. Der Horror, den das dreiköpfige studentische Dokumentarfilm-Team im Zuge seiner Recherchen über den „Blair Witch“-Mythos im Wald erlebt, wird lediglich durch zwei wackelige Handkameras von durchschnittlicher Qualität eingefangen. Die Ausgangssituation ist schon an sich gruselig: Nachts alleine in einem Wald zu sein, in dem man sich obendrein auch noch verlaufen hat, gehört zu den ureigenen Ängsten des zivilisierten Menschen (nur echte Black Metaller suchen die Isolation im Hain und könnten bei den Dokumentar-Schwarz/Weiß-Aufnahmen von einer eisigen Sehnsucht übermannt werden). Natürlich lässt sich der Wald auf vielfältige Weise als Metapher lesen, für die Spurensuche, die Suche nach Antworten, eine Reise ins Unterbewusstsein, um der eigenen Angst zu begegnen…
Die Authentizität des Materials ist verblüffend. Nur im Originalton wird ebenso die außergewöhnliche schauspielerische Leistung wie die konsequente Durchführung des Dokumentationsstils deutlich, selbst wenn im Dunkeln kaum etwas zu sehen ist und manche Wortmeldungen durch die Distanz kaum zu verstehen sind. Handfeste Beweise für übernatürliche Wesen dokumentieren die Kameras nicht, es stellt sich vielmehr die Frage, ob das Ganze nicht einfach zu erklären ist. Vielleicht sind sie in die Falle eines Mörders getappt. Vielleicht haben sie mit ihren Fragen an die Dorfbewohner für ihre Dokumentation jemanden auf sich aufmerksam gemacht, der ihnen wiederum das „Fürchten lehrt“. Vielleicht sind die Drei dermaßen empfänglich für Geistergeschichten, dass es bis zum nervlichen Zusammenbruch nur die passende Situation gebraucht hat. Vielleicht ist die Täterin oder der Täter unter ihnen. Vielleicht haben sich die Studenten sogar einen Scherz erlaubt und die Vorkommnisse nur inszeniert. Vielleicht wollten sie selbst Teil des Mythos werden. Aber bei jeder dieser Theorien bleibt ein Restzweifel, etwas Uneindeutiges, das niemals zu klären sein wird. Die Kamera sollte eigentlich als neutraler Beobachter dienen, nur füllt sie diese Rolle zu keinem Zeitpunkt aus, weil es immer die Entscheidung eines Menschen ist, wann sie eingeschaltet und wie sie gehalten wird. Es ist auch als eine unmissverständliche Medienkritik zu verstehen, dass Heather auf ihre obskure Beziehung mit dem Aufnahmegerät angesprochen wird.
Zum einen ist „The Blair Witch Project“ ein Psychogramm einer temporären Dreiecksbeziehung in einer extremen Stresssituation, die detailliert die Stufen von Hoffnung über Verzweiflung und Paranoia bis Resignation im Schnelldurchlauf nachzeichnet. Zum anderen ist das Projekt eine pathologische Studie der Entstehung und Manifestierung eines Horrormythos. Das gesamte Werk dröselt im Detail auf, welche Ingredienzien und Mechanismen nötig sind, damit sich ein Mythos als in seiner Bedeutung geteiltes Konstrukt in der Gesellschaft etabliert, von dem eben jeder schon mal etwas gehört hat, aber niemand alles weiß, weil es keine Beweise gibt, also etwas vage geblieben ist und für immer bleiben wird.
Die Quintessenz aus „The Blair Witch Project“ wirkt einfach, aber ist doch so wertvoll: Der Horror findet im Kopf statt. Das ist der Schlüssel, der lange übersehen wurde, stattdessen stürzte sich Hollywood auf andere Elemente. Authentizität und niedrige Produktionskosten machten beispielweise „Paranormal Activity“ zu einem Kassenschlager, doch am Ende fehlte das Außergewöhnliche, das die Macher in einem eigenen, wenig anregenden Mythos zu finden versuchten. Auch der Versuch, mit „[rec]“ eine weitere Revolution loszutreten, zeigt, dass den Regisseuren leider nur dieser eine Geniestreich vergönnt war. Glücklicherweise sehen zunehmend mehr Filmemacher die Potenziale des Horror-Genres. Sei es der Horror, eine depressive Mutter („Der Babadook“), eine überforderte Teenagerin („It Follows“) oder ein einsamer Zwilling („Ich seh, ich seh“) zu sein, alle diese Szenarien kommen ohne brutale Monster aus, weil der Horror ihrer Leiden real und Symbolkraft der darum gestrickten Filme umso angsteinflößender ist. Das macht den Horrorfilm wieder zu einem interessanten Medium, das durch immer mehr Blut und Übertreibung drohte zu einer kaum mehr ernst zu nehmenden Popcorn-Nummer zu verkommen, weil heute schon manch ein Film wie eine Parodie seiner selbst wirkt.
Wer die Verantwortung für diese Entwicklung trägt, ist eine schwierige Frage, über die man mit seinem Kulturpessimismus leicht ins Stolpern geraten kann. Dennoch schrillen die Alarmglocken, wenn sich Zuschauende heutzutage im Erstkontakt mit „The Blair Witch Project“ gelangweilt und unterfordert fühlen, denn selbst beim Horror-DVD-Abend müsste der Film immer noch für eine Gruseleffekt sorgen. „The Blair Witch Project“ ist ein Meisterwerk, nur scheint heute eine Bearbeitung nötig zu sein, damit es auch weiter als solches erfahren wird. Einen Film, der seinen Einfluss sicher noch nicht ausgeschöpft hat, einfach zur Feier des Tages ohne zusätzliche Inhalte (ein weiteres Mal) auf den Markt zu schmeißen, hilft dabei sicher wenig.
FAZIT: Über den Status von „The Blair Witch Project“ bräuchte man sich eigentlich nicht zu unterhalten, würde das Wissen um das schlüssige Gesamtwerk nicht immer weiter verloren gehen. Statt sich der Aufgabe einer geschmackvollen Edition des Meisterwerks zu stellen, wird dieser Tage weiter Profit aus dem Original geschlagen. Weder der neue Streifen noch mit der gleichzeitig vorgenommene (Wieder-)Veröffentlichung des ersten „The Blair Witch Project“-Films finden stichhaltige Argumente für ihr Dasein. Letzere enttäuscht, weil der Film keine Aufhübschung in Form einer Remastered-DVD bzw. Blu-ray benötigt und gleichzeitig kein neues Bonusmaterial zu bieten hat. Stattdessen sollte lieber in eine Deluxe-Edition zu einem angemessen Preis investiert werden, damit die Käuferinnen und Käufer nicht übersehen, was in diesem Gesamtwerk steckt.
Cover & Szenenbilder © Studiocanal
- Titel: The Blair Witch Project (Digital Remastered)/(Blu-ray-Wiederveröffentlichung)
- Produktionsland und -jahr: USA, 1999
- Genre: Horror
- Erschienen: 06.10.2016
- Label: Studiocanal
- Darsteller:
Heather Donahue
Michael Williams
Joshua Leonard
- Regie/Drehbuch:
Daniel Myrick
Eduardo Sánchez - Kamera: Neal Fredericks
- Extras:
Alternative Enden
Audiokommentar von Regie und Produzenten
Dokumentation „Curse of the Blair Witch“
Interview mit Daniel Myrick und Eduardo Sanchez
Neu entdecktes Filmmaterial
Teaser
Trailer
Wendecover - Technische Details (DVD)
Video: 1,33:1 4:3 Vollbild
Sprachen/Ton: D, GB
Untertitel: D
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 1,33:1 1080/24p Full HD
Sprachen/Ton: D, GB
Untertitel: D
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktseite (DVD)
Produktseite (Blu-ray)