Ob Ryan Reynolds „Cucumber“ jemals gesehen hat, ist nicht überliefert. Allerdings dürften ihm bei der Abfassung des Drehbuches, dem Dreh und jedesmal, wenn irgendwer auf der Welt diese Serie sieht, die Ohren brennen – und zwar sehr. Wird doch in einem verstörenden, aber völlig einleuchtenden Monolog beschrieben, warum besagter Mr. Reynolds, zumindest wenn er masturbiert, definitiv und unwiderlegbar schwul ist.
So beginnt „Cucumber“, eine von drei miteinander verwobenen Serien von Russel T Davies, der schon „Queer as Folk“ aus der Taufe gehoben hat. Die Grundidee ist so einfach wie ambitioniert: „Cucumber“ bildet mit „Banana“ und „Tofu“ (alle Titel leiten sich von verschiedenen Erektionsstufen des Penis ab) ein kleines Multiversum in Manchester: Die Hauptrollen der einen Serie sind die Nebenfiguren der anderen. Mit verschiedenen Handlungs- und Figurenschwerpunkten wurde konsequent für unterschiedliche TV-Sender und Web-Formate mit verschiedenen Zielgruppen produziert, wobei „Tofu“ nicht als Blu-Ray oder DVD vorliegt, da es als dokumentarische Online-Reihe konzipiert und veröffentlicht wurde.
Das klassische, linear erzählte Element dieses Trios ist „Cucumber“: Die unvollendete Geschichte des in die Jahre gekommenen Henry Best, der reich an Leib und arm an Haar mit seinem Partner Lance eine leidlich glückliche Beziehung führt, bis zu jenem Tag, als er dessen Heiratsantrag ablehnt. In einer irrwitzigen Talfahrt verliert Henry seine Wohnung, sein Vermögen und seinen Job und findet sich unversehens in einer WG mit den beiden wesentlich jüngeren Schwulen Dean und Freddy wieder.
Der Plot und die Figuren sind mit sympathischer und erfrischender Britishness gezeichnet und umgesetzt. Man folgt dem ganzen gern ein bis drei Folgen lang. Die Highlights sind Julie Hesmondhalgh als entzückend abgedrehte Cloe, James Murray als zum Fürchten homophober Daniel, und Freddy Fox, den man zum Mmonologisieren auch gern auf einer Theaterbühne sähe. Warum verliert „Cucumber“ aber trotzdem weit vor Staffelende seinen Reiz?
Es ist eine schwule Serie – von Queerness keine Spur: Warum trennen sich homosexuelle Männer, obwohl sie glücklich sind? Warum sind sie – vor allem in jungen Jahren – hochgradig promiskuitiv? Warum fühlen sie sich vor allem zu Heteromännern hingezogen? Die Klischees werden zwar geschickt in Handlung verpackt, bleiben aber Schablonen. Nur am Rande werden Themen wie Familie, Freundschaft und soziale Differenzen behandelt. „Cucumber“ ist der weiße, mittelalte Bekannte unter den TV Serien: gesetzt, satt und gesellschaftlich angekommen. Verwerfungen werden spektakulär inszeniert (da kann die Serie durchaus mit „Game of Thrones“ mithalten), aber wirklich erschüttert wird niemand von ihnen, weder die Zuschauer*innen noch Henry Best, dessen Darsteller Vincent Franklin ganze 8 Folgen mit jeweils ca. 45 Minuten Laufzeit mit drei Gesichtsausdrücken meistert: er lächelt beschämt, schaut besorgt oder traurig.
Ein anderes Kaliber ist „Banana“, ein Spin-off, produziert für den jüngeren Sender E4, das in acht Folgen à ca. 25 Minuten jeweils das Leben einer Figur aus der Hauptserie intensiv beleuchtet: Was hat es mit Deans Familie auf sich? Was passiert, wenn die lesbische Sian ihrer lesbischen Mutter Promiskuität vorwirft? Wie reagiert die Familie der transsexuellen Violet, als ihr Ex ein Sexvideo von ihr online stellt?
„Banana“ kann mit Vielfalt punkten: Lesbische Paare und Mann-zu-Frau-Transsexualität bekommen ihren Raum neben den üblichen schwulen Erzählsträngen. Viel stärker als „Cucumber“ lenkt die Serie den Blick auf die unfertigen und gesellschaftlich tabuisierten Biographien von Menschen außerhalb des Cis-hetero-Spektrums. Es geht um Lookism, psychische Probleme, Medienkompetenz, Selbstachtung, soziale Ausbeutung und Entfremdung. Daneben ist „Banana“ vor allem durch die erfrischende Fülle unverbrauchter Gesichter definitiv das spannendere Format und auch optisch sind sich die Showrunner hier deutlich mutiger gewesen: Ein hohes Erzähltempo und eine teilweise überwältigende Schnittfrequenz kondensieren ganze Biographien auf knapp halbstündige Episoden.
Die Frage nach der Queerness bleibt allerdings bestehen: Wo sind die non-binary people? Was ist mit polygamen Lebensformen? Wie verarbeitet man Transmännlichkeit narrativ?
Zusammen sind „Cucumber“ und „Banana“ das gelungene Ergebnis des inhaltlichen aber auch formalen Experiments, zielgruppenorientiertes Fernsehen zu produzieren. Spannend ist vor allem der Wechsel zwischen der älteren, gesellschaftlich etablierten Perspektive und den jüngeren Figuren, deren innere und äußere Coming-Out-Prozesse in den vergangenen 20 Jahren nicht einfacher geworden sind.
Cover © polyband
- Titel: Cucumber & Banana
- Originaltitel: Cucumber & Banana
- Staffeln: jeweils 1
- Produktionsland und -jahr: Großbritannien, 2015
- Genre:
Drama, Komödie, Queer
- Erschienen: 12.09.2016
- Label: polyband Medien GmbH
- Spielzeit:
ca. 540 Minuten auf 2 Blu-Rays
+ 112 Minuten Bonusmaterial
- Darsteller:
Vincent Franklin,
Cyril Nri,
Freddie Fox,
Fisayo Akinade, u.a. - Regie:
David Evans
Lewis Arnold - Drehbuch: Russel T Davies
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 16:9 anamorph (2,35:1)
Sprachen/Ton: D Dolby Digital 5.1, GB Dolby Digital 5.1
Untertitel: D, GB
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbsmöglichkeiten
web-Serie: “Tofu”
Wertung: 11/15 dpt