Schon der Untertitel “Gespräche mit Helden” stellt klar, Angela Richter hat einen Standpunkt und auf dem positioniert sie sich in den Gesprächen mit verschiedenen Whistleblowern, angefangen bei Daniel Ellsberg (“Pentagon Papers”), endend mit Edward Snowden. Das heißt, am Schluss steht ein Verweis auf das nicht zustande gekommene Interview mit der inhaftierten Chelsea Manning, die – noch als Bradley Manning – geheime Infos an Wikileaks weitergab, um der Öffentlichkeit Einblicke in die Kriegsführung der USA (speziell im Nahen Osten) zu ermöglichen. Für diesen “Geheimnisverrat” wurde sie zu 35 Jahren Gefängnishaft verurteilt.
“Supernerds” ist ein erschütterndes, trauriges und zugleich hoffnungsvolles Buch, zeigt es doch in den Gesprächen/Essays, dass Einzelne sehr wohl in der Lage sind, ins Weltgeschehen einzugreifen. Fatalerweise in zwei Richtungen, die aufklärende und zerstörerische. Die meisten Interviews beginnen mit der Frage:
“Wo warst du am 11. September, und wie hast du dieses Ereignis erlebt?”
Wobei jeder Interviewpartner auf den zweiten Teil der Frage die gleiche Antwort gibt. Der 11.09.2001 war eine Zäsur, ein tragischer, aber singulärer, Terrorakt, an dem die Entscheidungsträger der USA sich auf die wahren Werte der Demokratie hätten besinnen können, stattdessen aber einen Weg einschlugen, der Restriktion, globale, ungefilterte Überwachung und stärkeres Kriegstreiben bedeutete, mit einem nahezu unbeschränkten Geldfluss für immer unkontrollierbare werdende Geheimdienste. Obwohl jedem interessierten Grundschüler schnell klar wird, dass ein Übermaß an Information nichts anderes als Desinformation bedeutet, werden weiter Daten gesammelt, Gespräche belauscht und unliebsame Personen auf perfide Art mundtot gemacht.
Ohne dass man das Gefühl hätte, die Welt sei in den letzten Jahren sichererer geworden. Im Gegenteil, je radikaler gegen Feinde (heißt: Geschäftsmäßig nicht von Bedeutung oder so populär, dass man gezwungen ist finanzielle Einbußen hinzunehmen, um vermeintliche große Namen auszuschalten) vorgegangen wird, umso mehr wachsen nach. Besonders wenn durch gezielte Tötungen Märtyrer geschaffen werden, oder durch “Kollateralschäden” im Umfeld der Überlebenden eine rachsüchtige Radikalisierung stattfindet.
Sämtlichen Whistleblowern, angefangen bei Daniel Ellsberg, dem Aufklärer über die Hintergründe des Vietnamkriegs, bis hin zu Edward Snowden ist ein Beweggrund gemein: Zu sehen, dass notwendige staatliche Kontrollinstanzen versagen oder schlichtweg nicht existieren, wenn Geheimdienste, Justiz und Militärstrategen Amok laufen, und letztlich die eigene Bevölkerung bekämpfen. Daraus folgt der Schluss, dass man als Individuum aktiv werden muss, um Schaden vom Volk abzuwenden. Etwas, dass eigentlich den gewählten Volksvertretern obliegen sollte, die aber schmählich versagen.
Natürlich hilft dabei, dass die populären Whistleblower an entscheidenden Schaltstellen sitzen, die richtigen Leute kennen oder äußerst geschickt im Umgang mit moderner Informationstechnologie sind. Doch wie sie auch agieren, um ihre Erkenntnisse publik zu machen, das Risiko zum “Volksverräter” abgestempelt zu werden, liegt bei fast 100%. Dabei agieren die sogenannten Verräter als “überzeugte Amerikaner” (mit Ausnahme Julian Assanges), die sich ihrem Gewissen und den ursprünglich einmal propagierten Werten von Recht, Freiheit und der uneingeschränkten Möglichkeit seine Meinung zu äußern, verpflichtet fühlen.
Ellsberg zitiert dazu den Berliner Professor Albrecht Haushofer, der in Folge des Attentats auf Adolf Hitler, am 20. Juli 1944, nach seiner Haftentlassung auf einem Feld von SS-Leuten erschossen wurde. In seiner Manteltasche fanden sich achtzig Gedichte, die sogenannten “Moabiter Sonette”. Von denen eins mit den eindrücklichen Worten endet:
Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
Ich hab mich selbst und andere belogen –
Ich kannte früh des Jammers ganze Bahn.
Ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heute weiß ich, was ich schuldig war.
Über die Methoden der Informationsbeschaffung kann man durchaus streiten, über die Notwendigkeit, dass dieses Wissen um die Ränkespiele von Macht und Ohnmacht publiziert werden muss, kaum. Angela Richters lässt ihren Interviewpartnern viel Raum für unkommentierte Selbstdarstellung. Die Schlüsse aus dem Gesagten und den Taten der einzelnen Whistleblower muss der Leser selbst ziehen, beziehungsweise sich weiterführend damit beschäftigen.
Doch bereits die Erzählungen darüber wie sich das individuelle Leben nach dem Ausbruch aus der Konformität verändert, sind hochspannend und erschreckend. Denn nicht nur die Whistleblower selbst geraten ins Visier der Fahnder, sondern auch ihre Familien und Freunde. Und sei es als Druckmittel. Keine verwegenen Verschwörungstheorien werden ausgebreitet, stattdessen mit Fakten belegbare Verletzungen aller Rechte und Pflichten, die eine demokratisch gewählte Regierung ihrer Bevölkerung gegenüber besitzt. Der manisch besetzte Terrorbegriff macht’s möglich, selbst wenn sich die ergriffenen Maßnahmen der staatstragenden Organisationen und Geheimdienste als gänzlich ineffektiv erweisen. Die Demokratie wird dabei gekillt, mit einem hingeschmetterten Willkommensgruß im Paranoia Paradise.
Und noch immer gilt der alte, Benjamin Franklin zugeschriebene, Ausspruch: “Wer wesentliche Freiheit aufgeben kann um eine geringfügige bloß jeweilige Sicherheit zu bewirken, verdient weder Freiheit, noch Sicherheit.”
Eigentlich müsste “Supernerds” Schullektüre sein. Denn es gibt viel zu erfahren, zu diskutieren, und es hilft, eine eigene Position zu finden und zu festigen angesichts globalen Versagens und des verzweifelten Ankämpfens Einzelner dagegen. Ein verdammt wichtiges Buch, zu dem es auch eine Multimedia-Inszenierung Angela Richters mit dem gleichen Titel gibt.
Cover © Alexander Verlag
- Autor: Angela Richter
- Titel: Supernerds: Gespräche mit Helden
- Verlag: Alexander Verlag
- Erschienen: 6/2015
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 175
- ISBN: 978-3-89581-372-6
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