Gerald Kersh – Die Toten schauen zu (Buch)


gerald-kersh-die-toten-schauen-zuAm 27.04.1942 wurde SS-Obergruppenführer und General der Polizei Reinhard Heydrich, beauftragt mit der “Endlösung der Judenfrage” und einer der maßgeblichen Mitorganisatoren des Holocaust, bei einem Attentat in Prag schwer verletzt. Fünf Tage später starb er an den Folgen der Verletzung. Sein Tod führte zu einer Vergeltungsaktion, die das Dorf Lidice traf. Alle männlichen Einwohner des Ortes, die älter als sechzehn Jahre waren, wurden erschossen, sämtliche Kinder wurden in die “Umwandererzentralstelle Posen/Dienststelle Litzmannstadt” deportiert.

Diejenigen, die als “germanisierbar” galten, landeten in einer Lebensborn-Einrichtung, die weitaus größere Anzahl wurde im Vernichtungslager Chełmno vergast. Ein Schicksal, das auch einen Teil der weiblichen Bevölkerung ereilte, knapp zweihundert weitere Frauen wurden im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Lidice war durch die erfundenen Ausflüchte eines jungen Ehebrechers ins Visier der Behörden geraten, was aber nicht ausschlaggebend war. Irgendwelche Beweggründe hätte man sowieso erfunden, denn es sollte ein Exempel statuiert werden, um die tödliche Konsequenz des Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht zu verdeutlichen.

1942 schrieb Gerald Kersh seinen Roman “The Dead Look On”, der ein Jahr später in England veröffentlicht wurde, und der die Ereignisse, die zur Auslöschung Lidices führten, literarisch verarbeitete. Bis zur deutschen Erstausgabe sollten dreiundsiebzig Jahre vergehen. Einerseits beschämend, andererseits ist 2016 vielleicht genau der richtige Zeitpunkt für eine Veröffentlichung hierzulande.

Von einem vorbeifahrenden Motorrad aus wird der Obergruppenführer und General der Polizei Bertsch in der Tschechoslowakei erschossen. Als man wenige Zeit später ein Motorradwrack in der Nähe der Ortschaft Dudicka findet, bedeutet dies den Untergang des Dorfes. Denn Heinz Horner, deutlich angelehnt an Heinrich Himmler, ein gefühlloser Bürokrat des Todes möchte eine Aktion mit Signalwirkung inszenieren.

Gerald Kersh installiert in der Mitte des Romans eine finstere Pointe, die noch einmal betont wie hohl die Phrasen sind, die Horner und seine Untergebenen als Wertemaßstab ausgeben. Die komplette Entfremdung, die Abwesenheit eines humanistischen Konzepts, das Ersetzen von Empathie durch selbstmitleidige Sentimentalität hat alles in Beschlag genommen und macht auch vor Morden in den eigenen Reihen nicht halt, wenn es dem übergeordneten Vernichtungsplan dient.

Ein Plan, von dem die meisten Bewohner Dudickas zunächst nichts ahnen. An Zwangs-Arbeitseinsätze für die Nationalsozialisten hat man sich fast gewöhnt, so bricht kaum Unruhe aus, als Horner und seine Männer in den Ort einfallen. Auch wenn es bald den ersten Toten gibt und Kulturgüter boshaft zerstört werden, zeichnet Kersh die Gruppe der Gefangenen noch im Alltagstrott. Es gibt die üblichen Streitereien und Geplänkel, Freude und Sorgen; Mütter stehen vor der Entbindung, Verlobungen, Geburtstage und Hochzeiten stehen an. Aus heiterem Himmel sind alle Lebensentwürfe gegenstandslos.

Kershs Personenzeichnungen sind liebevoll und präzise, ihm reichen mitunter wenige Zeilen für einfühlsame Charakterstudien. Er überhöht dabei die Opfer nicht, sondern stellt sie als inhomogene und doch aufeinander bezogene Gruppe dar, voller liebenswerter und nicht ganz so angenehmer Zeitgenossen. Ganz egal, ob es sich um den intellektuellen und friedfertigen Lehrer Karel Marek handelt, der das unausweichliche Grauen vorausahnt oder den egoistischen Feigling Rudolf Svatek (“Dudickas Narr”) – den Tod durch deutsche Henker hat keiner verdient.

Diese werden als kaltherzige Mechaniker des Todes dargestellt. Keinerlei Faszination geht von den Beamten der Vernichtung aus. Eine der einprägsamsten Figuren ist der akribische und pflichtbewusste Hauptmann Pommer, dessen Lebensaufgabe darin besteht, Wertstoffe aus eroberten Gebieten zu erfassen und zu schätzen. Ein besessener Altmetallsammler, der mit seiner Materie verschmilzt, bis nichts von Wert mehr übrig ist.

“Die Toten schauen zu” ist ein unendlich trauriges Buch von enormer Kraft. Sein Ende steht von Beginn an fest, trotz des Liebespaares Anna und Max, das als Hoffnungsträger dient und vorerst in den Wald flüchten kann, in die Obhut des mental leicht derangierten Außenseiters, der den Wald in- und auswendig kennt. Der Lehrer hat sie zur Flucht angetrieben, die das junge Paar widerwillig antritt.

So pendelt die Erzählung zwischen den deutschen Besatzern, der Dorfbevölkerung und dem Trio in einem Höhlenversteck hin und her. Dank der klaren, lakonischen Sprache, die keine kurzatmig erschaffenen Höhepunkte braucht, um zu wirken, der inhaltlichen Fokussierung auf den kurzen Moment, der zwischen Gedanken und Taten liegt, entwickelt der Roman eine enorm hohen Spannungsgrad. Auch in der deutschen Übersetzung wirkt Kershs Sprachkunst keine Zeile lang antiquiert. Souverän beobachtet er die Zeitläufe, analysiert und zieht exemplarische Schlüsse, die an der Realität orientiert, fiktional verarbeitet werden. Durchsetzt (nicht aufgelockert) ist der Roman von finsterem Humor, der niemals zu Lasten der Opfer geht sowie poetischen Miniaturen, die beiläufig in den Text eingefügt sind, um selbst in Vorboten des Todes noch eine Idee (oder Illusion) von Schönheit zu entdecken.

“Die Toten schauen zu” wirkt lange schmerzhaft nach, der erzeugte, in der Realität fußende, Schrecken greift umso tiefer, je mehr man tagtäglich erfährt, dass kaum Lehren aus solchen Ereignissen wie der Zerstörung Lidices beziehungsweise Dudickas gezogen werden. “Slawen sind Sklaven” verkündet ein Oberst namens Petz bereits auf der ersten Seite voller Überzeugung. Die Reduktion des Menschen auf ein käufliches und jederzeit nach Belieben verwertbares Neutrum bleibt natürlich nicht auf Slawen beschränkt. Diese Form der Menschenverachtung nimmt alles ins Visier, was gerade in den Kram passt. Gerne solche Menschen, die möglichst hilfsbedürftig sind und sich nicht adäquat wehren können. Ein zeitbezogenes Phänomen ist dieser Rassismus nicht.

Schon 1942 konnte jedem klar sein, der wie Gerald Kersh genau hinschaute, dass am deutschen Wesen die Welt niemals genesen wird. Und man wundert sich darüber, was bei solchen Figuren falsch gelaufen ist, die Begriffe wie “völkisch” wieder positiv konnotieren wollen. Leider werden genau diese PappkameradInnen nicht zu Kershs eindrücklichem Werk greifen. Wobei sich die Frage stellt, ob “Die Toten schauen zu” im lichtlosen Dunkel dieser Wichtelhirne zumindest eine Kerze entfachen würde. Wäre wünschenswert.

Cover © pulp master

  • Autor: Gerald Kersh
  • Titel: Die Toten schauen zu
  • Originaltitel: The Dead Look On
  • Übersetzer: Ango Laina, Angelika Müller
  • Verlag: pulp master
  • Erschienen: 28.01.2016
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 227 (inklusive Nachwort und Anmerkungen)
  • ISBN: 978-3-927734-74-6
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite beim Verlag
    Seite der Gedenkstätte Lidice

Wertung: 14/15 dpt


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