Han Kang – Die Vegetarierin (Buch)


Han Kang - Die Vegetarierin (Cover © Aufbau Verlag)»Ich hatte einen Traum« erklärt die in den Augen ihres eigenen Ehemannes bis dahin unspektakulärste Frau der Welt, als sie beschließt, ihr Leben und damit unverhofft auch das ihres Umfelds völlig auf den Kopf zu stellen. Es ist ein Gefühl der Verlorenheit, der Einsamkeit und Angst; es sind Bilder blutiger Fleischstücke, die an Bambusstangen hängen, ihr weißes Kleid beflecken und ihren Mund und Gaumen mit dem Geschmack von Blut benetzen; es sind Eindrücke einer vertrauten und doch fremden Fratze ihrer selbst, die diesen ersten Ausschlag gebenden Traum dominieren und Unvorhersehbares initiieren.

Yong-Hye wird zur Vegetarierin. Genau genommen zur Veganerin, denn sie nimmt von da an keinerlei tierische Produkte mehr zu sich. Selbst der Geruch von solchen, insbesondere der von Fleisch an ihrem Mann, widert sie an. Die bis dahin ohnehin leidenschaftslose Ehe beginnt zu zerfallen wie auch alles andere in Yong-Hyes Welt: die nur vorgeblich funktionale Beziehung zu ihren Eltern und Geschwistern, das ebenso trügerische Eheglück ihrer ernsthaften, bis zum Ende pflichtbewusst-fürsorglichen und selbstlosen Schwester In-Hye, und letztlich Yong-Hye selbst.

„Die Vegetarierin“ ist eine Geschichte des Zerfalls, aber auch der Befreiung. Sie erzählt von der Macht unterdrückter Sehnsüchte, von Pflichtbewusstsein und hemmenden Ängsten. Yong-Hye, die Protagonistin dieses Romans, der Ehemann ihrer Schwester, Chong, und besagte Schwester In-Hye, sie alle sind Spiegel dieser inneren Zerrissenheit, die sich erst durch Yong-Hyes Aufbegehren auch bei den Übrigen manifestiert. Ihre Konflikte und Ängste, Hemmnisse und Bedürfnisse sind dabei im Kern universal gültig und nachvollziehbar.

Yong-Hye selbst, die das ausschlaggebende Moment für all diese Entwicklungen darstellt, kommt in Hang Kangs Roman allerdings nicht als Erzählerin zu Wort. In drei Abschnitte unterteilt erzählt „Die Vegetarierin“ in wechselnden Perspektiven zunächst aus dem Blickwinkel von Yong-Hyes Ehemann, anschließend aus dem von Chong und im abschließenden dritten Teil aus dem ihrer Schwester In-Hye. Yong-Hyes Gedankenwelt bleibt damit weitgehend ein unergründliches Mysterium, über welches der Leser nur ebenso spekulieren kann wie ihr nahestehendes Umfeld.

Doch gerade diese Position der Erzählinstanzen ergänzt Han Kangs vielschichtigen Roman um eine wesentliche Dimension. So wird nicht etwa alleinig der innere Konflikt der Protagonistin, oder etwa der ganz individuelle Konflikt der übrigen Hauptfiguren problematisiert. Auch die Schwierigkeit des Umgangs von außen-, aber nahestehenden Personen mit einem seinem selbstdestruktiven Verhalten und inneren Konflikten zunehmend erliegenden Menschen, wird durch eben diese Perspektivierung, auch aufgrund ihrer Pluralität, von der Autorin subtil eingeflochten. Nicht minder unaufdringlich und dabei dennoch eindringlich ist Han Kangs Sprache. In ihren Grundzügen Yong-Hyes Wesen gleichend ist sie auf den ersten Blick schlicht und klar und doch tiefgründig und von schonungsloser Direktheit.

In einem Land wie Südkorea, in welchem der Fleischkonsum einen hohen Stellenwert im Ernährungsplan genießt, liegt die Tendenz nahe, Vegetarismus als Akt der Rebellion zu begreifen. Auch das übrige Verhalten Yong-Hyes ist nicht anders zu deuten. Die bis dahin unscheinbare Yong-Hye, deren Subversion gegen einengende Konventionen und deren sexuelles Aufbegehren sich bereits seit jeher in ihrem Widerwillen, sich in einen Büstenhalter zu zwängen, latent andeutete, wird in ihrem Vorhaben, sich zu entmenschlichen, zunehmend frei(zügig). Nicht nur ihrer Kleidung, auch anderer menschlicher Konventionen wie Schlaf, Kommunikation und schließlich der Nahrungsaufnahme per se verweigert sie sich zusehends. Denn sie hat eine Vision. In einem ihrer Träume entwickelt sie sich zu einem mit Blumen übersäten, mit der Erde verschmolzenen Baum, einem Lebewesen, das zu einem friedvollen Leben nicht wesentlich mehr als Wasser und Sonne benötigt.

Vegetarismus oder Veganismus resultieren nicht selten aus existenzialistischen Reflexionen, und zwar nicht nur über das eigene menschliche Sein, sondern über jegliche Lebensform unserer Erde. Als solche existenzialistische Reflexion manifestiert sich schließlich auch Han Kangs Roman.

Yong-Hyes angestrebte Metamorphose lässt sie die verschiedensten Existenzformen durchleben: von dem geradezu animalischen Urwild, das temporär aus ihr ausbricht, über ein Verhalten, das sonst nur pflanzlichen Lebensformen zu eigen ist, bis hin zur schrittweisen Degeneration zu einem geradezu kindlichen Zustand.

Nachdem sich Yong-Hyes Abneigung fleischlichen Gelüsten gegenüber zunächst auf deren Ingestion beschränkt und sie sich im zweiten Teil des Romans noch ganz und gar der sinnlichen Fleischeslust hingibt, hat sie im abschließenden Kapitel einen physischen Zustand erreicht, dem nicht nur jede sexuelle Ausstrahlung abhandengekommen ist, sondern in welchem fleischliche Gelüste – nun jeglicher Art – für sie völlig irrelevant geworden sind. In diesem geradezu transzendenten Zustand ist Yong-Hyes letztes Ziel die Wiedergeburt, welcher unweigerlich der Tod, die Einbettung in Mutter Erde, die sie zu ihrem wahren Wesen überführen soll, vorangehen muss.

Der „Vegetarierin“ liegt eine verstörend bewegte Ruhe und Natürlichkeit zu Grunde. Auf hochkonzentriertem Raum zeichnet die in diesem Jahr für ihr exzeptionelles Werk, das in Südkorea bereits 2007 erschien, mit dem renommierten Man-Booker-Literaturpreis ausgezeichnete Autorin, die absurdesten Szenarien und groteskesten Bilder mit einer expressiven Einfachheit, die es dem Leser unmöglich macht sich ihrer Intensität zu entziehen.

Cover © Aufbau Verlag

  • Autor: Han Kang
  • Titel: Die Vegetarierin
  • Originaltitel: 채식주의자 Vegetarierin, Ch’angbi 
  • Übersetzer: Ki-Hyang Lee
  • Verlag: Aufbau Verlag
  • Erschienen: 15. August 2016
  • Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
  • Seiten: 190
  • ISBN: 978-3-351-03653-9
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite beim Verlag
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 14/15 dpt


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