Sein Deutschland-Debüt gab der 1954 in Rom geborene, in Italien als Kolumnist für die La Repubblica und den L’Espresso bekannte Autor Michele Serra mit “Die Liegenden”, einem Roman, in welchem ein Vater mit seinem ihm immer fremder werdenden Sohn einen inneren Dialog führt und wieder mehr Nähe zu ihm sucht. Hauptmerkmal jenes Buches war die Art, wie Serra diese in ihm arbeitenden Gedanken zu Papier brachte, denn sie waren nahezu poetisch und dennoch direkt und klar.
Diesen Stil, wenngleich auch nicht in der zweiten Person formuliert, findet man auch in “Kleine Feste” dann und wann wieder, einer zweihundertseitigen Sammlung von zwölf Erzählungen und Beobachtungen des Autors aus verschiedenen Stationen seines Lebens und des Lebens anderer Menschen, mit welchen er offenbar in Berührung kam.
Die Überschriften dieser einzelnen bis 2002 entstandenen Schriften (im italienischen Original unter dem Titel “Cerimonie” erschienen) sind recht ungewöhnlich betitelt, so nennen sie sich “Bis dem letzten Kellner das letzte Trinkgeld zugesteckt wäre”, “Manchmal sind wir ganz ergriffen und wissen nicht, wem davon erzählen” oder “Glaubt mir, Mord ist die sublimste Form der Zeremonie!” – und das verstört erst einmal, zumal eine Vorahnung, um was es jeweils geht, nahezu ausgeschlossen wird. Man muss sich praktisch einlassen auf das, was kommen mag. Man wird in ein Szenario geworfen und muss sich erst einmal zurecht finden: Wo bin ich hier und was geschieht gerade?
Skurriles und Absurdes vs. allzu Menschliches
Hierbei handelt es sich oftmals um skurrile und absurde Situationen, zum Beispiel das Ritual eines hutzelig-verschrobenen, alten Botschafters und seiner Frau, das regelmäßig zur Happy Hour in einem Café in Rom gastiert oder um einen Herrn, der in aller Regelmäßigkeit den nahegelegenen Fluss aufsucht, um dort mit anderen Männern einen atheistischen Ritus zu zelebrieren. Nackt.
In einer anderen Story wird der noch jüngere Michele erstmals von einem Bekannten zu einem “Männerabend” (Waldhütte, viel Rotwein, Gewehre, es soll beobachtet und gejagt werden) eingeladen und schließt sich den Herrschaften, wenn auch skeptisch, an – die Gedanken schweifen umher und nehmen dabei sonderbare Gestalt an. Dann wäre da noch die Geschichte, in welcher ein Graffiti-“Künstler” ständig nachts sein Unwesen treibt und auch den Rollladen des Ladens des Protagonisten mit seinen Schmierereien verziert. Bis Letzterer dem Sprayer einen Schritt voraus ist und ihm mit seiner Pistole etwas Respekt einzuflößen versucht. Respekt sucht auch der Ich-Erzähler in “Glaubt mir, Mord ist die sublimste Form der Zeremonie!”, in der man zuerst glaubt, die Figur möchte durch einen Mord an einem Menschen Selbstwirksamkeit erleben – und dem Erzähler gehörig auf den Leim geht.
Doch auch sensiblere Erzählungen und Rückblenden findet man in diesem Büchlein, beispielsweise “Kleine Tempel der Kindheit”, in welchem der “alte” Serra bis in die Kindheit zurückgeht und das noch werdende Leben Revue passieren lässt, mit der Möglichkeit, dass es unglaublich schnell vorbei sein kann mit diesem Leben. Einen Schritt weiter geht da “Gongs in Bambuswäldchen, Dudelsäcke in den Bergen und Harfen auf der Heide”, das sich mit dem Tod beschäftigt – insbesondere dem Umgang eines Kindes mit dem Tod eines ihm wichtigen Menschen. Auch Eifersucht, seltsame Jobs (“Den Kaffee trinken wir bei Herrn Ludden”, köstlich! J, bestimmt auch der Kaffee!) oder die politische Gesinnung im Laufe der Jahre zählen zum Themensprektrum des in strahlend blaues Halbleinen gebundenen Werkes, sodass man durchaus sagen kann: Ganz schön viel Inhalt für so wenig Buch.
Diese zuweilen sehr persönliche Lektüre animiert einerseits zur Selbstreflexion und zum Reflektieren des Lebens an sich, andererseits wird dem Leser hier und dort demonstriert, dass das Betrachten diverser Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln wertvoll sein kann und so manches nur auf den ersten Blick absurd oder seltsam wirkt, bei genauerer Betrachtung allerdings mehr als logisch wird. Es werden Dinge hinterfragt, es wird philosopiert – und letztendlich sind all diese Dinge, Rituale, Ereignisse auf ihre individuelle Weise das, was als Titel auf dem Cover prangt, nämlich kleine Feste.
Viele kleine Feste ergeben ein großes.
Michele Serra ist ein Autor, der sich über viele Dinge wertvolle Gedanken macht – jemand, der nicht einfach nur das Leben durchlebt, sondern sehr wohl innehält und vieles hinterfragt, zu erklären versucht, ja gar Schlüsselszenen der eigenen Vita daraus extrahiert. Und das macht das unscheinbar wirkende “Kleine Feste” zu einem nahezu lebensbereichernden Etwas. Viele Gedankenkorridore verflechten sich zu einem Gebäude, und man entdeckt auf einmal Winkel und Räume, die man zuvor nie wahrgenommen hat. Es ist herausfordernd und spannend zugleich, durch diese Türen hindurch zu gehen, selbst wenn man sich dessen gewahr ist, nicht zu wissen, was sich hinter der anderen Seite des Türblatts verbirgt. Oder möglicherweise gerade deswegen.
Cover © Diogenes Verlag
- Autor: Michele Serra
- Titel: Kleine Feste
- Originaltitel: Cerimonie
- Übersetzer: Julika Brandestini
- Verlag: Diogenes
- Erschienen: 23.03.2016
- Einband: Hardcover Leinen mit Schutzumschlag
- Seiten: 208
- ISBN: 978-3-25706-964-8
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