Kyra Slagter, Abiturientin und Hobby-Kriminologin, ist eine der ersten am Fundort der Leiche an der IJ Promenade in Amsterdam Nord. Das Mädchen filmt den Toten, der an einem sechs Meter hohen Laternenpfahl mit heruntergelassener Hose aufgehängt wurde, sein Gesicht ist dem Meer zugewandt. Die Szenerie erinnert an ein Rembrandt-Gemälde vom sogenannten Galgenfeld, das sich hier bis Ende des 18. Jahrhunderts befand. Passenderweise ist der Ermordete Marc Gaullier Künstler und Kunstlehrer, auch Kyra gehörte zu seinen Schülern. Mit ihren Freundinnen gehörte sie einer Gruppe von angeblich talentierten Schülerinnen an, die Privatunterricht in des Künstlers Atelier erhielten, der sich allerdings nicht allein auf das Malen beschränkte. Die Mädchen standen nackt Modell und es kam zu erotischen Annäherungen.
Die Kommissarin Maud Mertens ist überzeugt davon, dass sich hinter den erotischen Bildern Gaulliers ein Mordmotiv verbirgt. Der Täter, vielleicht der Vater oder der Freund eines der Modelle, war auf Demütigung des Opfers aus und hat ihn entwürdigend zur Schau gestellt. Doch Gaullier bleibt nicht das einzige Mordopfer, ein weiterer Toter wird gefunden. Dieses Mal hat der Killer sein Opfer enthauptet.
„Dunkle Flut“ begleitete die Rezensentin auf eine Reise nach Amsterdam. Schließlich kann es für den Lesegenuss nicht schaden, das Flair des Handlungsorts direkt auf sich wirken zu lassen. Nach zweieinhalb Stunden Bahnfahrt war die Grachtenmetropole zwar erreicht, die Verfasserin dieser Zeilen jedoch noch nicht wirklich in der Handlung angekommen. Denn das Rätsel um die Zurschaustellung eines ermordeten Künstlers dreht sich fast bis zur Hälfte des Romans auf der Stelle, ausschließlich um die vermeintlich pädophile Ader des Opfers. Die Ermittlerin hat dabei an Deduktionsergebnissen nicht viel zu bieten. Nur die Hoffnung, die Fäkalien, die im Mund des Opfers gefunden wurden, mögen doch bitte vom Täter selbst stammen. Und die jugendliche Hobby-Detektivin hat sich gefühlt hundert Mal ihr Video angesehen und mit Freundinnen und ihrer Mutter gestritten. Ab und zu hat sich der Täter zu Wort gemeldet und erzählt, wie viel Freude er doch an seiner Show hat. Und ein Mädchen ist auf der Flucht vor Verfolgern durch das schottische Hochland gerannt. Als dann auch noch die Ermittlerin Mertens angefangen hat, über ihre dem Gothic-Stil verfallene Tochter zu lamentieren, hätte die Rezensentin das Buch fast endgültig zur Seite gelegt.
Doch dann taucht ein weiteres Opfer auf. Die Handlungsstränge fangen an, sich zu ergänzen und auf einmal liest sich „Dunkle Flut“ flüssiger und spannender. Und die anfangs wenig gemochte Hobby-Kriminalistin Kyra überzeugt nun mit glaubwürdiger Motivation und Kombinationsgabe, ausgerechnet ihre Ermittlungsarbeit erweitert das Spektrum. Die Umstände des Verschwindens ihrer Schwester haben den Grundstein dafür gelegt, dass Kyra davon besessen ist, Kriminalfälle aufzuklären und sie sich entsprechendes Wissen angeeignet hat. Dieses nutzt sie nun für die Mordfälle, was schließlich auch Ermittlerin Maud Mertens erkennt.
Nach dem zweiten Mord erfährt der Leser auch mehr über die Hintergründe, die den Serienkiller foltern und töten lassen, sie werden durchaus schlüssig hergeleitet. Allerdings macht der Killer Fehler, die das Kidnapping weiterer Personen erfordern. Im Nachhinein werden diese eher zufälligen Aktivitäten mit einem Trauma erklärt. Was aufgesetzt wirkt, denn nicht alle Gräueltaten müssen eine psychische Grundlage haben.
Umgekehrt verhält es sich mit den Ereignissen in Schottland. Das unbekannte Mädchen erhält den Namen Jane Doe und der Leser erahnt eine Vorstellung, einen Verdacht. Das mysteriöse Verwirrspiel bekommt endlich Konturen und beschäftigt die Fantasie.
Am Ende finden die meisten der anfangs einzeln abgewickelten Handlungsfäden zusammen. Der Täter wirkt zwar etwas wie aus dem Hut gezaubert, lässt sich aber zumindest nicht vorhersehen, die falsche Fährte am Ende funktioniert. Das Ermittlerinnenteam hat in „Dunkle Flut“ nicht voll überzeugt, doch zumindest Kyra Slagter zeigt viel versprechende Ansätze, eine eigenwillige und fähige Kriminalerin zu werden.
Ein typischer Regionalkrimi ist „Dunkle Flut“ nicht. Die Handlung könnte in den meisten nordeuropäischen Hafenmetropolen spielen und Straßen und Orte werden nur dann namentlich genannt, wenn es für die Handlung relevant ist. Doch die Autorin transportiert das Flair Amsterdams, das freiheitliche, aber auch geheimnisvolle Gesicht der Stadt. Insofern war die Urlaubslektüre richtig gewählt.
Zu den Pluspunkten des Krimis zählen Sprache und Stil der Autorin, variantenreich und auf die verschiedenen Erzähler (Maud Mertens, Kyra, der Täter, Jane Doe) abgestimmt. Besonders reizvoll ist die Wahl verschiedener Erzählperspektiven für ein und dieselbe Szene. Oder der unmittelbare Wechsel aus der Sicht eines distanzierten Beobachters in die Gedankenwelt eines anderen Erzählers. Auch die Dialoge sind authentisch und auf den Punkt gebracht. Die Schreibe Isa Marons ist ein Genuss und entschädigt für Passagen, in denen die Handlung nicht überzeugt. Was kein schlechter Grund ist, der Serie um die Nordsee-Morde in Amsterdam eine weitere Chance zu geben.
Wenn es Isa Maron gelingt, sich weiterhin verzwickte Kriminalfälle auszudenken, diese rechtzeitig mit dem Handlungsrahmen zu verzahnen und ihre Ermittlerinnen reifen zu lassen, dann haben die Nordsee-Morde Potenzial, sich zu einer spannenden Reihe mit Wiedererkennungswert zu mausern.
Cover © DuMont Buchverlag
- Autor: Isa Maron
- Titel: Dunkle Flut
- Teil/Band der Reihe: Band 1 Die Nordsee-Morde
- Originaltitel: Galgenveld
- Übersetzer: Stefanie Schäfer
- Verlag: DuMont Buchverlag
- Erschienen: 03/2015
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 400
- ISBN: 978-3-8321-6357-0
- Sonstige Informationen:
Produktseite beim Verlag
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 9/15 dpt