Ich lese, weil … Teil 1: Chris Popp (#warumichlese)

Sandro Abbate von novelero – Blog für Literatur schrieb auf seinem Blog jüngst einen Artikel darüber, warum er liest. Er warf diese Frage auf Facebook in die Runde – ich wurde zwar nicht direkt angesprochen, aber fühlte mich so – und fragte auch gleich mal im booknerds.de-Team, ob noch jemand mitmachen möchte. Es kann also sein, dass nach und nach weitere Teile dieser Reihe hier erscheinen. Den Anfang mache ich ausnahmsweise mal selbst. Warum lese ich? Gab es diesen einen Moment? Habe ich ein Lese-Gen?

Ich lese weil... Grafik © booknerds.de - Idee: Sandro Abbate/novelero.de

Ohne literarische Wurzeln

Ich komme aus einer sehr lesefaulen Familie, einer durchschnittlichen, kinderreichen Arbeiter-Patchworkfamilie – meine allesamt älteren Halbgeschwister sah man nie mit Buch (außer für die Schule), meinen Vater bestenfalls mit der BILD-Zeitung oder der regionalen Tageszeitung, und meine Mutter las lediglich diese Groschenromanheftchen. Zwar fand man Lexika im spärlichen Bücherregal, und der Rest war seichtes Zeugs der Marke Simmel und Konsalik, und eine Ausgabe des bösen Buches des Mannes mit dem zweifingerbreiten Oberlippenbart hatten sie auch stolz im Regal stehen (warum auch immer…) -, aber das war es dann auch schon. Doch daran, dass diese Bücher jemals jemand gelesen hätte, kann ich mich nicht erinnern. Offenbar dienten sie lediglich als Wohnaccessoires.

Ein Anfang?

Man bläute mir bereits in den ersten Grundschuljahren ein, dass Lesen etwas für Stubenhocker, Eigenbrötler und Langweiler sei. Doch was sollte es? Ich war gern Stubenhocker und habe mich mit meinem Ruf als komischer Kauz abgefunden; als Kind ist einem so etwas noch relativ gleichgültig. Und so hatte ich das ein oder andere Kindersachbuch geschenkt bekommen, meistens, weil Bekannte meiner Eltern ältere Kinder hatten, die diverse Bücher und Spielsachen nicht mehr benötigten oder haben wollten. Ergebnisse von Ausmistungsaktionen eben. Oder, wenn im Ort Sperrmüllwoche war und Kartons mit Büchern am Straßenrand standen, da habe ich in entsprechenden Kisten gern mal gestöbert und akzeptabel aussehende Bücher einfach mitgenommen. Peinlichkeitsbewusstsein? Hatte ich damals keines. Meine Eltern dachten ohnehin, ich hätte die Bücher von Freunden geschenkt bekommen. Sie vermuteten es, ich nickte, sie waren beruhigt. Wunderbar. Doch ein Bücherjunkie war ich damals noch lange nicht.

Ein bisschen lesen schadet nie…

Letztendlich hatte ich vielleicht lediglich um die zwanzig Bücher bei mir liegen – ich erinnere mich beispielsweise an das recht vielschichtige Sachbuch “Ich sag Dir alles”. Dann gab es noch eines, das sehr umfangreich von Technik handelte, und ich meine, Flora und Fauna waren auch reichhaltig vertreten. Doch das war es dann auch. Viele der Bücher verschwanden irgendwann auch wieder, wenn Muttern mal wieder meinte, mein Zimmer ungefragt ausmisten zu müssen.

»Lesen ist doch etwas für Eigenbrötler! Christian, geh doch mal raus oder ruf Freunde an!«

Gelegentlich lieh ich mir von meinem damaligen besten Freund “Was ist was”-Bücher aus, und als wir in der fünften und sechsten Klasse eine Klassenbibliothek hatten, habe ich das ein oder andere Kinderbuch mit viel Spaß gelesen – solche Sachen wie “Wir pfeifen auf den Gurkenkönig”, “Mit Pizza, Pauken und Trompeten”, “Das Sams” oder “Meffi der kleine feuerrote Teufel”. Kommentar meiner Eltern: »Ach, geh doch mal raus, Christian. Such dir Freunde.«
Tja, irgendwann gegen Ende der sechsten Klasse glaubte ich dann als formbares Kind tatsächlich, dass Lesen wirklich nichts Tolles sein kann, zumal mein Freundeskreis eher maximal ein Viereck war. Und so wurde ich abrupt vom Gelegenheits- zum Nichtleser und suchte mir andere Beschäftigungen.

Interesse am Lesen sinkt auf null…

Dann kam die Pubertät, gleichzeitig das Desinteresse, und die Eigenbrötlerthese hat sich endgültig in mein Gehirn eingebrannt – sprich: Wenn ich mal gelesen habe, waren das höchstens mal Musikmagazine oder Computerzeitschriften. Aber Bücher? Nee, viel zu langweilig. Und viel zu uncool. Da hatten meine Mitschüler und Freunde (allesamt des Lesens wieder abtrünnig geworden) sowie meine Eltern recht! Das glaubte ich zumindest viele Jahre lang. Meine damalige achte Klasse war trotzdem verstört, als ich als einziger bei Max Frischs “Biedermann und die Brandstifter” mehrfach lachen musste, als wir es in der Klasse mit Zuteilung der Rollen lasen. War mir das peinlich! Also habe mich dann damit herausgeredet, dass das doch total sinnlos sei, so einen Quatsch, so einen alten Müll, zu lesen – und das glaubte ich mir irgendwann natürlich auch selbst. Es gab in der Pubertät zwei, drei Jahre, in denen ich mich tatsächlich von Gruppendynamik leiten ließ – gute Güte, war ich naiv!

Nun… Eigenbrötler mit überschaubarem Freundeskreis blieb ich trotz allem. Mich Trends anzuschließen, um irgendwie dazuzugehören, das war nicht meins, und missglückte Versuche waren der Beweis dafür.

…und die Zeit dafür ebenfalls.

Als ich dann ab 1990 anfing, Musik zu machen, war ohnehin nur wenig Zeit fürs Lesen übrig – also habe ich das Thema Buch irgendwann komplett aus meinem Leben ausgeblendet. Als ich dann mit der Berufsausbildung loslegte und anschließend in den Beruf stolperte, wurde der Freizeitplan noch knapper. Und der war vollgestopft mit… richtig,:Musik. Mein Ehrgeiz in Richtung Professionalität diesbezüglich war ungebrochen. Mein absolut bücherfreier Lebensabschnitt begann demnach Ende der sechsten Klasse und war sehr lang.

Letztendlich musste ich fast dreißig, werden, um Zugang zur Literatur zu finden. Es sollte tatsächlich bis etwa 2004 dauern, bis ich wieder freiwillig ein Buch in die Hand nahm. Und das war totaler Zufall. Wir fuhren mit Frau und Kids – wir waren zum damaligen Zeitpunkt etwa drei Jahre zusammen – in meine alte Heimat Heidelberg (wo ich bis 2001 noch lebte) und gingen dort in einen Laden, der gespendete Kleidung, Kleinmöbel, Gegenstände und eben Bücher für sehr wenig Geld verkaufte und den Erlös für einen guten Zweck spendete.

Ich muss dazu sagen: Ich war arbeitslos, wir hatten sehr wenig Geld, und wir waren froh, uns und vor allem unsere Kids in diesem Laden mit viel sehr gut erhaltener Kleidung einzudecken. Damals befand ich mich in einer Phase, in der ich mir selbst auf die Nerven ging. Meine musikalische Kreativität war auf dem Nullpunkt, ich hatte keine Aufgabe (außer eben die üblichen Haushaltsarbeiten und eben für meine Frau und die sich damals noch in einstelligem Alter befindenden Kids da zu sein), und ich konnte ja nicht nur zocken, computern und fernsehen. Zumal “richtige” Hobbys oftmals Geld fressen, welches seinerzeit nicht da gewesen wäre.
Und auch wenn ich damals schon Musikrezensionen schrieb (ohne die kostenlosen Rezensionsexemplare wäre ich musikalisch sehr bald ausgehungert gewesen – so kam ich wenigstens an neuere Musik) und dadurch viel Zeit mit intensivem Hören verbrachte, reichte mir das nicht. Ich brauchte irgendetwas Zusätzliches.

Lesen als Verzweiflungstat? Nein – ich lese, weil ich Medizin gegen das Durchdrehen suchte.

Und letztendlich war das der Griff nach dem Strohhalm: Eine weitere Beschäftigung zu finden, um nicht durchzudrehen. Eine Verzweiflungstat, wenn man so will. Da stand ich nun vor einem Regal mit Büchern für Centbeträge, und meine Frau wunderte sich schon, warum ich ausgerechnet dort stehen blieb. Denn sie kannte mich nicht lesend.

Lesen? Warum nicht? Aber was?

Doch Schnulzen? Nein. Drachengedöns? Fand ich schon immer bekloppt. Krimis? Na ja, muss nicht. Eigentlich lieber etwas Realistisches. Ja, realistisch war gut. Bloß nicht fiktiv. Meine Frau zeigte auf “Ganz unten” von Günter Wallraff, nahm es aus dem Regal, drückte es mir in die Hand – und die Beschreibung klang wirklich interessant. Und auf einmal war ich Leser. Täglich ein Buch in der Hand. Anfangs habe ich mir die damaligen Wallraff-Werke, auch die mit Heinrich Böll, Stück für Stück zugelegt und fand das unglaublich spannend.
Doch irgendwann hatte es sich ausgewallrafft und ich nahm mir das ein oder andere Buch aus dem Regal meiner Frau, die schon immer gerne las. Was soll’s, meinetwegen auch fiktive Storys. Aber Roald Dahl? Hab ich mal reingeblättert und nach wenigen Seiten wieder zurückgestellt. Potter? Och nö, da haben mich schon die Filme nur so halb interessiert, und allein von der Thematik war das nicht das, was ich unbedingt lesen wollte. Dan Brown? Sprach mich auch nicht an. Und dann habe ich “Die Fliegenden Zauberer” von Larry Niven und David Gerrold aus einer Kiste gefischt und hatte irgendwie Spaß daran. Sehr viel. Richtig viel. Anschließend kamen – auch aus anderen Quellen außer dem hiesigen Regal – noch diverse Bücher von Bill Bryson (unterhaltsam!) sowie Tony Hawks’ “Mit dem Kühlschrank durch Irland” (herrlich absurd!), dann ein paar Comedyromane (semilustig bis lustig), ebenso Bernard Shaws “Pygmalion” (groß!) sowie Nick Hornbys “High Fidelity” (viel erwartet, nichts bekommen) oder J. D. Salingers “Der Fänger im Roggen” (schnarch!) hinzu.

Von null auf unendlich

Mir war nie klar, wie breitgefächert die Bücherwelt ist, und so fing ich Mitte des vergangenen Jahrzehnts an, mich wie ein Wahnsinniger mit Büchern einzudecken. Zuerst möglichst günstige gebrauchte, später dank besserer finanzieller Lage auch neue, und meine Schreiberei, zu der ich gleich komme, brachte mir natürlich praktischerweise noch die Möglichkeit kostenloser Rezensionsexemplare ein, doch dazu gleich mehr. Genres waren mir bei meiner literarischen Entdeckungswut egal. Das konnte ein Krimi, ein Thriller, Science-Fiction, ein Liebesroman, Unterhaltung, ein satirischer Roman, ja fast egal was sein. Ich war hungrig, ich war am Erforschen meiner leserischen Grenzen, und irgendwann war ich so weit, zu sagen: Ich bin bereit für alles. Und so tastete ich mich über Douglas Coupland und David Foster Wallace weiter zu Mark Z. Danielewski und Arno Schmidt. Das Spektrum wuchs und wuchs, und diese Neugier, dieser Drang vorwärts, dieses Entdecken – dieses Abtauchen eben, das sorgt auch heute noch für ein inneres Gleichgewicht. Ab ca. 2006 schrieb ich noch eher sporadisch über Bücher, und als ich dann zum Jahrzehntwechsel extrem damit anfing, auch zu rezensieren (erst für zwei Printmagazine mit Literaturteil), merkte ich, wie groß mein Drang war, meine Leseerfahrung auch mit anderen zu teilen, mich mitzuteilen. Und das hat mich 2012 dann auf die nächste Stufe gehievt, nämlich ein eigenes Ding namens booknerds.de zu gründen – und so endlich den richtigen direkten Kanal zwischen Input und Output zu finden. Denn ich kann meine Eindrücke nur schwer für mich behalten!

Der Nerd in mir

Während ich diesen Text so verfasse, wird mir überhaupt erst ein Verhaltensmechanismus bewusst, den ich bei mir so nie wahrgenommen hatte: Was ich anfangs mit Desinteresse strafte, war später eine Sucht für mich. So war es mit Musik (zwischen 10 und 16 kein Interesse, danach absolutes Nerdtum), mit Instrumenten (zwischen 12 und 17 kein Interesse, danach absolutes Nerdtum), mit TV-Serien (bis Mitte 20 waren sie mir egal, heute lechze ich nach guten Serien) und mit Büchern: Nerdtum.

Heute, mit 41, kann ich sagen: Ich lese, weil …

… ich vor vielen Jahren eine Medizin gegen das Durchdrehen suchte. Heute bin ich danach süchtig und möchte diese Medizin nie wieder absetzen.

Ich lese aber auch, weil …

… das Lesen in meinem Kopf Korridore erschuf, derer ich nie gewahr war. Und es werden noch munter weitere Korridore dort oben gebaut.
… es Zerstreuung und Bereicherung gleichermaßen ist.
… es den Tag entschleunigt.
… es mich als Menschen zusätzlich prägt.

Und ich bin stolz, noch immer der komische Kauz zu sein, der ich bin. Mit all meinen Ecken, Kanten und Leidenschaften. Leidenschaften, die oftmals mit Zufällen verbunden waren.

Mehr lesenswerte Beiträge hier (direkt unter seinem eigenen Beitrag gibt es eine schöne Auflistung!)

INFO: Mittlerweile sind dieser Beitrag, der Beitrag von Laurent Piechaczek und der Beitrag von Henri Vogel auch in einem gedruckten Buch zu finden, in welchem vierzig Blogger ihren Weg zur Literatur dokumentieren. Klickt einfach auf diesen Link, und ihr gelangt zur Produktseite des Buches!

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