»Ich kann transparent sein, wie steht es mit euch?« – ein klares Statement, eine mutige Frage, die Ai Weiwei an die chinesische Regierung richtet, als diese sein Haus nach seiner Haft im Jahre 2011 von 15 Überwachungskameras observieren lässt. Er reagiert mit weiteren, eigenhändig angebrachten Kameras im Inneren des Hauses, deren Aufnahmen von jedermann via Internet gesichtet werden können. Doch so ist Ai Weiwei, so ist seine Kunst: subversiv, mutig und provokant, aber auch vielfältig in Sujet und Ausführung. Von der Malerei über die Fotografie bis hin zur Architektur und Bildhauerei ließ der Konzeptkünstler kaum ein Feld der Kunst unangetastet. Kunst um der bloßen Kunst willen ist Ai Weiweis Schaffen jedoch eher selten. Es ist gerade sein Status als Dissident und Aktivist, welcher ihn zu einer internationalen Berühmtheit, zu einer der mächtigsten, aber auch vielschichtigsten Figuren der aktuellen Kunst macht. Diese komplexe Beschaffenheit des humanistischen Konzeptkünstlers wird in Hans Werner Holzwarths Monographie „Ai Weiwei“ allseitig durchdrungen.
Die dreisprachige Monographie folgt in chronologischer Ordnung Ai Weiweis Werdegang. In der Reihenfolge englisch-, deutsch- und französischsprachig werden dabei nicht nur die einzelnen Bildbeschreibungen, sondern auch sämtliche Texte in dreifacher Ausfertigung angeboten. Neben kürzeren Textpassagen, die darauffolgende Bildgruppen unterschiedlicher Projekte erläutern und kommentieren, und bei denen es sich größtenteils um Aussagen von Ai Weiwei selbst handelt, welche aus Interviews stammen, die eigens für dieses Buch geführt wurden, zeichnen auch eingehende Verlaufsübersichten zu einzelnen Projekten sowie Essays ein ganzheitliches Bild des Künstlers, seiner Werke und seiner Welt. Zu Wort kommen dabei neben Ai Weiwei selbst Uli Sigg, ein enger Freund des Künstlers und ehemaliger Schweizer Botschafter in der Volksrepublik China; Roger M. Buergel, der 2007 die documenta 12, bei der auch Ai Weiwei ausstellte, kuratierte; die Experten für chinesische Kultur und Politik Carlos Rojas, William A. Callahan und James J. Lally, sowie Stimmen der Nachrichtenberichterstattung, von Kuratoren, Kunstkritikern und anderen Kunstschaffenden; ebenso von Ai Weiweis Projektteilnehmern und -arbeitern, Unterstützern und Beteiligten aller Art. Kaleidoskopartig werden dadurch verschiedene Facetten sichtbar gemacht: das Eigenempfinden Ai Weiweis, die Fremdwahrnehmung durch ihm mehr oder weniger nahestehende Personen sowie durch Medien und Presse.
Nicht minder vielseitig gestaltet sich die Präsentation und Variation der Abbildungen, die mal als doppelseitige Großabbildungen erscheinen und einen detailreichen Einblick in das jeweilige Werk gewähren, und sich mal in dokumentarischer Weise mit anderen, kleineren Abbildungen über mehrere Seiten hinweg erstrecken und so das Ausmaß bestimmter Projekte verdeutlichen oder ein Gefühl für bestimmte Gegebenheiten schaffen. Unter die Bilder seiner Werke mischen sich zahlreiche Privataufnahmen, darunter auch Kindheits- und Familienbilder, aber auch Fotografien von Unruhen und Katastrophen. Auf subtile Weise wird so die dichte, nicht ganz unproblematische Verflechtung von Privatperson, Aktivist und Künstler evident. An gegebener Stelle des Buches wird ebendiese Schwierigkeit der Verflechtung auch explizit erörtert.
Das Buch leitet mit einem Ai Weiwei Mitte zwanzig ein; zeigt Werke aus den 1980ern; zeigt wie Ai Weiwei quasi in die Fußstapfen seines, aufgrund seiner Texte zum Staatsfeind deklarierten, Vaters, dem Maler und Dichter Ai Qing, tritt und sich vor der Realität Chinas in die Kunst und schließlich in die USA flüchtet. Es wird die Entwicklung von Ai Weiwei, dem bloßen Künstler zu Ai Weiwei, dem Künstler und Menschenrechtsaktivisten, seine Abkehr von einer Kunst, die sich im Ästhetizismus erschöpft, hin zu einer Kunst mit ethisch-moralischem Standpunkt, dargelegt. Ein Essay von Uli Sigg setzt sich in diesem Kontext ausführlich mit der Frage auseinander, inwieweit es letztlich kontextuellen Wissens über die chinesische Lebenswelt und das chinesische Denken bedarf, um Ai Weiweis Schaffen, in dem sich so häufig der Wunsch nach Neuerung der chinesischen Gesellschaft kundtut, zu begreifen.
Es folgen Arbeiten und Aufnahmen aus Ai Weiweis New Yorker Jahren – eine Zeit, die der Künstler zwar beiläufig, aber dennoch umfangreich dokumentiert hat. Neben dem urbanen Alltag fotografierte er Unruhen, neue Freunde sowie sich selbst. Es ist eine Zeit des Umbruchs für den Künstler, auf die ein neues völlig konträres Kapitel folgt. Diese neue Phase in Beijing ist Nährboden für Arbeiten, die für die Individualität von Künstlern plädieren. Diverse, groß angelegte Projekte, unter anderem der Bau und die Gestaltung des Studios Caochangdi 258, das gleichzeitig Wohnhaus des Künstlers und seiner Frau ist, sowie seine Beiträge für die documenta 12, werden in diesem Rahmen hinsichtlich ihrer Inspiration, Bedeutung, Planung und Ausführung ausführlich beschrieben.
Das Kapitel, das sich den Jahren 2008 bis 2011 widmet, offenbart hingegen erschütternde Bilder über die Folgen des Erdbebens von Sichuan. Verschriftlichte Telefongespräche Ai Weiweis mit chinesischen Behörden dokumentieren hier unter anderem sein Engagement um einen humanistischen Umgang mit dieser Tragödie von Seiten der Regierung. Doch auch Arbeiten jenseits seines politischen und aktivistischen Schaffens finden Eingang in die Monographie, so etwa die Gründung eines eigenen Restaurants.
Das Buch endet mit einem resümierenden Überblick zu Leben und Werk sowie zu sämtlichen Ausstellungen, die chronologisch nach Art der Ausstellung gelistet werden. 2013 endet der Rückblick. Obwohl dieser die vorangegangenen Beiträge um einige interessante Fakten ergänzt, bleibt eine Repetition unvermeidbar. Eine solche schlägt sich allerdings in der gesamten Monographie, sowohl auf textlicher als auch auf bildlicher Ebene nieder, indem nicht nur die Bedeutung und Umsetzung von Projekten, sondern auch die Kunstwerke selbst – unter anderem aufgrund der dreifachen Einbringung desselben Textes in unterschiedlichen Sprachen und mit unterschiedlicher Illustration – mehrfach Erwähnung beziehungsweise Abbildung finden. Die Repetition mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass nicht immer lediglich das fertige Kunstwerk, sondern auch sein Erschaffungsprozess fotographisch dokumentiert abgebildet wird. Einige Kunstwerke wiederholen sich daher, wenn sie zunächst im Kontext ihrer Erschaffung und später im Kontext einer bestimmten Ausstellung Erwähnung und Abbildung finden. Ein Umstand der allerdings keineswegs negativ bewertet werden kann, da er primär förderlich für das Verständnis von Ai Weiweis Arbeitsweise ist. Das Text-Bild-Verhältnis fällt letztlich positiv ausgewogen aus. Dass das Material zudem auf persönliche Aufnahmen – von der Smartphone-Aufnahme bis hin zum Ultraschallbild – ebenso zurückgreift wie auf Blog-Einträge und Tweets, verleihen der Monographie einen hohen Grad an Authentizität und Greifbarkeit. Es wird so ein profunder Einblick in und ein intensives Verständnis für Ai Weiweis Welt ermöglicht.
Bedenkt man kritische Stimmen, die dem Künstler, zuletzt nachdem er vor nicht ganz einem Jahr mit der Aushändigung seines Passes auch seine Freiheit wiedererlangte, unterstellten, es gelte an seiner Glaubwürdigkeit als Dissident und Aktivist, letztlich auch als Künstler, zu zweifeln, erscheint die Publikation einer ihm gewidmeten Monographie als gerade rechtzeitig.
Cover & Buchseitenabbildungen © TASCHEN Verlag
- Autor: Hans Werner Holzwarth (Hrsg.)
- Titel: Ai Weiwei
- Verlag: TASCHEN
- Erschienen: 02/2016
- Einband: Hardcover
- Seiten: 600
- ISBN: 978-3-8365-2649-4
- Sprache: Deutsch, Englisch, Französisch
- Sonstige Informationen:
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