Die Leinwand ist schwarz und Menschen reden unverständlich und wild durcheinander. Dann erscheint ein sepiafarbener Himmel, ein Flugzeug im Landeanflug, ein Kreuzworträtsel. Wie heißt der Kojak-Darsteller? Sieben Buchstaben: „Blank – Blank – V – Blank – Blank – Blank – Blank“. Das Kreuzworträtsel ist ebenso arm an individuellen Anknüpfungspunkten wie das Leben von Michael Stone, der sich auf dem Weg nach Cincinnati befindet. Alle Menschen außer ihm selbst haben dieselbe Stimme, dasselbe ausdruckslose Gesicht. Nur Lisa ist anders. Sie ist die Abweichung, die Anomalie.
Wären wir ihn Hollywood, würde daraus eine mit- und herzzerreißende Liebesgeschichte, ein Lobgesang auf die Individualität. Aber Regisseur und Drehbuchautor Charlie Kaufman erzählt in „Anomalisa“ etwas ganz anderes: Ein ausgebrannter Sachbuchautor und eine Telefonkundenberaterin treffen sich in einem gleichförmigen Tagungshotel und verbringen eine Nacht miteinander; völlig banal, austauschbar und gewöhnlich.
Und eben auch nicht, denn Kaufman und sein Co-Regisseur Duke Johnson haben eine kluge Idee in einen ziemlich ungewöhnlichen Film verwandelt.
Da wäre zunächst das Offensichtliche: Wo das Originalschauspiel noch mit menschlichen Darstellern arbeitete, setzt die filmische Adaption auf Puppen, die in Stop-Motion-Technik zum Leben erweckt werden; zu sehr realem Leben (ein schließlich großzügiger Fettpolster und nicht ganz so großzügiger Genitalien), dass dem Film eine FSK 12 bescherte. Für einen animierten Film ist „Anomalisa“ tatsächlich sehr explizit im Umgang mit Nacktheit und Sexualität (zuletzt gab es das vermutlich bei „Team America: World Police“); gleichzeitig aber in beiden Belangen hoch sensibel und realistisch. Wenn Lisa oral befriedigt wird, quiekt sie nicht direkt vor Wonne los, sondern fordert den gierigen und durchaus egoistischen Michael zu mehr Feingefühl auf. Der wuchtet anschließend seinen nicht mehr eben schlanken Leib nur bedingt elegant zum Zwecke der Vereinigung auf Lisa drauf. Es ist dieses Direkte und Ungeschönte, das „Anomalisa“ so überzeugend macht: zwanghaftes Rauchen von morgens bis abends, kein Händewaschen nach genüsslichem – von wohligem Stöhnen begleiteten – Stehpinkeln, enervierende Unsicherheit und Selbstzweifel.
Die Schauspielerin Jennifer Jason Leigh und der Schauspieler David Thewlis leihen Lisa und Michael dabei ihre Stimmen. Alle übrigen Figuren werden von Tom Noonan gesprochen (weshalb es sich sehr empfiehlt, den Film OmU oder als OV anzusehen) und auch das gehört zum Konzept von „Anomalisa“. Für Michael (dessen Perspektive die Zuschauer*innen über die vollen 87 Minuten einnehmen) klingen nicht nur alle Menschen, weibliche wie männliche, Erwachsene oder Kinder, gleich, sie sehen auch alle gleich aus. Jede*r von ihnen hat dasselbe ausdruckslose, blanke Gesicht. Selbst seine Ehefrau, mit der er seit zehn Jahren verheiratet ist, und sein kleiner Sohn besitzen keinerlei individuelle Merkmale für ihn. Michael wirkt so gleichermaßen bedauernswert wie unsympathisch. Entgegen seiner eigenen Ratschläge als Sachbuchautor für Kundenberater*innen ist Michael überhaupt nicht in der Lage, die liebenswerten Eigenarten anderer Menschen zu sehen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die mit britischem Akzent schnarrende Stimme von David Thewlis. Er spricht Michael wie einen Mann, dem eine Menge im Leben fehlt und der diese Leere möglichst ohne persönlichen Aufwand gefüllt bekommen möchte. Dass dieser Ansatz scheitern muss, gehört zu den schmerzhaften Banalitäten des Films.
Lisa dagegen ist weder eine besonders tiefgründige noch übermäßig kluge Figur, aber Jennifer Jason Leigh gelingt das Kunststück, mit ihrer Stimme sämtliche Unsicherheiten und Komplexe Lisas zu erfassen und sie dennoch als die überlegenere, weil zum Hinsehen fähige Person, zu sprechen.
Neben den hervorragenden Animationen ist es auch die Musik von Carter Burwell, die „Anomalisa“ auf eine sehr unangenehme Art berührend und überzeugend macht. Burwell zeigte in diesem Jahr schon bei „Carol“ und „Mr. Holmes“, dass er nicht der Meister nachhaltig im Gedächtnis bleibender Motive ist, sehr wohl aber über das seltene Talent verfügt, filmische Grundstimmungen in Musik zu übersetzen. Schon der Beginn von „Anomalisa“ ist in dieser Hinsicht beeindruckend: Gezupfte Streicher, darunter ein Xylophon, dessen tropfende Anschläge die Zeit scheinbar zum Stillstand bringen. Ein tief-hohes Piano gesellt sich dazu und eine traurig klagende Oboe untermalen das Hintergrundmurmeln im Flugzeug, den quälend langsamen Landeanflug, Michaels Ungeduld, nur endlich anzukommen. Eine E-Gitarre streut aggressive Töne ein, wenn die Streicher dann tatsächlich mit dem Bogen das fragmentarische Pianomotiv aufnehmen. Diese Filmmusik macht unruhig, aggressiv, irgendwie rastlos – mit anderen Worten: Sie funktioniert ganz hervorragend. Auch dann, wenn sie in scheinbar leichtem Lounge- oder Fahrstuhlklang daherkommt. Carter Burwell macht hörbar, dass etwas nicht stimmt.
„Anomalisa“ ist ein Film über menschliche und emotionale Leere, vielleicht über Depressionen, in jedem Fall über die Gleichförmigkeit des Lebens. Nichts, was man sich in einem Moment seelischen Ungleichgewichts zu Gemüte führen sollte, denn allzu oft bleiben die Versuche, dem zu entkommen, erfolglos und auch Lisa hat am Ende keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Ästhetisch, technisch sowie schauspielerisch und musikalisch ist der Film dennoch ein sehenswertes Kleinod.
Cover © Universal Pictures
- Titel: Anomalisa
- Originaltitel: Anomalisa
- Produktionsland und -jahr: USA, 2015
- Genre:
Stop-Motion-Animationsfilm - Erschienen: 02.06.2016
- Label: Universal Pictures
- Spielzeit:
87 Minuten auf DVD
91 Minuten auf Blu-Ray - Darsteller (= Sprecher):
David Thewlis (deutsch: Frank Röth) spricht Michael Stone
Jennifer Jason Leigh (deutsch: Caroline Ebner) spricht Lisa Hesselman
Tom Noonan (deutsch: Christian Weygand) spricht alle anderen Personen
- Regie:
Charlie Kaufman
Duke Johnson - Drehbuch: Charlie Kaufman
- Musik: Carter Burwell
- Extras:
Intimität im Miniaturformat
Der Klang des Unbehagens - Technische Details (DVD)
Video: Bildverhältnis 2,40:1 Letterbox
Sprachen/Ton: D, GB, F (Dolby Digital Surround 5.1), GB (Hörfilmfassung)
Untertitel: D, GB, DK, FIN, F, NL, N, S,TRK
- FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 12/15 dpt