Um es ganz ehrlich gleich vorneweg zu sagen: Der Rezensent ist mit diesem Text noch unschlüssig. Ist es pseudointellektell vorgetragener Popanz oder doch ein luzides Fundament einer neuen Denkschule? Dass sich der junge französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie in seinem Buch “Die Kunst der Revolte” selbst in seiner Rolle als schillernder Erneuerer einer modernen Philosophie der Demokratie sieht, macht ihn dann doch ein wenig verdächtig. Doch unbestritten hat er sich eines Themas angenommen, das dieser Tage durch die Panama Papers wieder einen gewissen Medienwert besitzt und um welches zahlreiche Philosophen bislang einen weiten Bogen geschlagen haben. Die Rede ist von Whistleblowern wie Edward Snowden, Julien Assange und Chelsea Manning.
Es wirkt am Anfang Lektüre ein wenig vermessen, wenn Geoffroy de Lagasnerie postuliert, dass diese drei Protagonisten des modernen Whistleblowings die Vorreiter eines neuen Demokratieverständnisses seien. Doch sorgfältig beschreibt er die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Motivationen der drei und hinterfragt so das Demokratieverständnis, das sicherlich die meisten von uns haben und das auch – der Rezensent kann glaubwürdig, wenn überhaupt, nur von Deutschland sprechen – von den demokratischen Parteien vertreten und immer wieder gerne, zumindest in Sonntagsreden, verteidigt wird. Tatsächlich stellt sich die Frage, wie in einer Demokratie Staatsgeheimnisse, im Hintergrund arbeitende Bundesnachrichtendienste oder eine zunehmende Überwachung der Bevölkerung akzeptiert und gerechtfertigt werden können.
Eine Demokratie zeichne sich neben Transparenz und Authentizität der handelnden Politiker, so Lagasnerie, auch dadurch aus, dass sie der Bevölkerung größtmögliche Sicherheit aller bei größtmöglicher Freiheit des Einzelnen gewähre. Der demokratische Staat lässt seinen Bürgern also einen Vertrauensvorsprung und zieht sich aus vielen persönlichen Handlungsräumen des Menschen zurück. Nun muss man nicht bestimmten Parteien oder Ideologien angehören, um zu erkennen, dass es in den letzten Jahren, ausgehend vom 11. September 2001, in vielen demokratischen Staaten zu teils erheblichen Beschneidungen des öffentlichen aber auch des privaten Lebens gekommen ist. Dass diese Freiheitseinschränkungen in so manchem Staat tatsächlich weit über die öffentlich kommunizierten Gesetze hinausgehen, das, so führt Lagasnerie aus, war nie Bestandteil demokratischer Entscheidungsfindungen und spielte auch keine Rolle in den Einlassungen vonseiten der Politik. Dass wir überhaupt von den massenhaften Überwachungen privater Mails und Telefonate oder von quasi-autark, an der Politik vorbei arbeitenden Geheimdiensten erfahren haben, das haben wir Plattformen wie Wikileaks und den Enthüllungen Edward Snowdens zu verdanken. Wie schwer diese geleakten Dokumente wiegen, das zeigen die heftigen Reaktionen vieler Politiker, die in Bezug auf die Protagonisten ganz offen nicht-rechtsstaatliche Konsequenzen androhen bzw. auch durchgeführt haben, wie die Beschlagnahmung der Computer der englischen Tageszeitung The Guardian bewiesen hat.
Nun mögen diese ersten zarten staatsphilosophischen Überlegungen und biographischen Darstellungen von Assange, Manning und Snowden an sich eine recht spannende und impulsreiche Lektüre darstellen. In diesem Hauptteil des Buches kann nur – immerhin! – die Gegenüberstellung der Whistleblower mit der Theorie des zivilen Ungehorsams bestechen. Hier argumentiert Lagasnerie überzeugend und stellt Assange, Manning und Snowden in diese Tradition und zeigt, wo sie sich absetzen und welche Bedeutung den neuen „Gesten des Ungehorsams“ zukommen. Doch Lagasnerie will noch einen Schritt weitergehen: Er sieht in diesen drei Whistleblowern die Geburt einer grundlegenden Revolte gegen eingefahrene, sich selbst erodierende Demokratien. Spätestens hier sind zahlreiche Fragezeichen angebracht, nicht zuletzt da der Autor auch sprachlich immer mehr postulierend denn analysierend agiert. Die Vorstellung postnationaler Strukturen in der Politik fasziniert, ist aber nicht neu und wurde auch schon – Camus, Chomsky oder Magris an dieser Stelle erwähnend – zwingender dargestellt. Dennoch zeigen gerade die zunehmenden Nationalisierungstendenzen in Europa, wie wichtig eine tragfähige Vision eines postnationalen Europas wäre.
Ob das Dreigestirn Assange, Manning und Snowden zu Gallionsfiguren dieser Bewegung taugen? Nun ja, das darf bezweifelt werden, auch wenn ihre Impulse hinsichtlich eines kritischeren Verständnisses gegenüber unserem brav eingeübten Freiheits- und Demokratiebegriffs nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Und dass sich Geoffroy de Lagasnerie dieser drei überlegend angenommen und sie für die Philosophie entdeckt hat, ist doch auch schon ein Gewinn – es muss ja nicht gleich die ganze Philosophiegeschichte umgeschrieben werden. Und so bleibt am Ende eine insgesamt lohnende Lektüre, die aber – und das sei, wenn auch nicht ganz im Sinne des alles-erklären-wollenden Autors, durchaus positiv verstanden, zahlreiche Fragen aufwirft und Ausgangspunkt spannender Überlegungen und meinetwegen auch einer Revolte an deren Ende eine neue Definition der Demokratie stehen mag, sein kann.
Cover © Suhrkamp Verlag
- Autor: Geoffroy de Lagasnerie
- Titel: Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning
- Originaltitel: L’art de la révolte. Snowden, Assange, Manning
- Übersetzer: Jürgen Schräder
- Verlag: Suhrkamp
- Erschienen: 08.02.2016
- Einband: Gebunden
- Seiten: 156
- ISBN: 978-3-518-58687-7
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