Daniel Woodrells “Tomato Red” erschien im Original 1998, bereits 2001 veröffentlichte der Rowohlt-Verlag den Roman auf Deutsch. In einer Aufmachung, die einen Jugendroman suggeriert. Der “Tomatenrot” trotz seiner jungen Protagonisten beileibe nicht ist. Eine größere Resonanz blieb dementsprechend aus, mittlerweile ist diese Ausgabe antiquarisch nur noch zu meist stolzen Preisen zu bekommen.
Dankenswerterweise hat sich der Liebeskind-Verlag des Romans angenommen, ihm ein stimmungsvolles Cover und wichtiger, eine vorzügliche Übersetzung durch Peter Torberg spendiert. “Tomatenrot” ist somit Woodrells viertes Werk, das im Münchener-Verlag erscheint. Dank der gelungenen “Winter’s Bone”-Verfilmung, die Jennifer Lawrences Durchbruch bedeutete, herrscht(e) auch hierzulande ein größeres Interesse an Daniel Woodrells Romanen. Von dem man nur hoffen kann, dass es über die vorzüglichen “Der Tod von Sweet Mister”, “In Almas Augen” und der von Heyne publizierten Bayou-Trilogie “Im Süden” hinausreicht.
“Tomatenrot” ist wieder in den Ozarks angesiedelt, jener ländlichen Gegend in Missouri, in der die Menschen abgeschottet leben, familiäre Bande die Zugehörigkeit bestimmen und Arm und Reich ungebremst nachbarschaftlich aufeinanderprallen. Sammy Barlach, der Mittzwanziger mit einem Namen wie ein deutscher Bezirksligakicker, hat keine Kohle und eine Sehnsucht: Er möchte dazugehören, nicht allein in eine abweisende Welt geworfen sein. Nachvollziehbar. Dass er gedankenlos jedem lächelnden Gesicht folgt eher weniger. So landet er, angetrunken und planlos, nach einer Party in einer scheinbar leerstehenden Villa. Wird dort überwältigt und betäubt. Vom Geschwisterpaar Jamalee und Jason. Wie sich schnell herausstellt sind Jamalee (die titelgebende “Tomatenrot”) und Jason, ihr sechzehnjähriger Bruder von außergewöhnlicher Attraktivität, keineswegs Bewohner des großen Hauses, sondern ebenfalls Eindringlinge. Auf der Suche nach einem harten, “bösen” Mann, eine Rolle, die Sammy nur zu gern annimmt. Wie selbstverständlich wird er Teil einer kleinen Sippe, zu der noch Bev gehört, die Mutter der Geschwister. Geschätzt als Prostituierte, berüchtigt als Polizeispitzel.
Sammy nistet sich ein, beginnt eine Affäre mit Bev, folgt Jamalee und Jason als eine Mischung aus besorgtem Zuhälter und Beschützer. Doch Jason, mit ungewisser sexueller Ausrichtung, taugt nicht als Callboy und Druckmittel für reiche, frustrierte Ehefrauen. Jamalee, kreativer und unwirscher Geist ist ein brodelnder Vulkan. Der ausbricht, als man sie aus einem Golfclub wirft, nachdem sie ein Vorstellungsgespräch vergeigt hat. Sammy versucht die Situation zu retten und wird ausgeknockt.
Was zu einer höchst eigenwilligen, schweinischen Vergeltungsaktion führt. Ein Fest der kindlichen Zerstörung, die Initialzündung für das Auseinanderbrechen der kleinen Patchwork-Gemeinschaft. Der Tod braucht bis zu Seite 133. Dann trifft er Sammy, Jamalee und Bev bis ins Mark. Unfall oder Mord? Das ungleiche Trio hat eine neue Aufgabe und beginnt zu ermitteln. Genau so blauäugig und unbedarft wie das Leben zuvor verlief. Führt immerhin zu einem Bestechungsversuch und dem Schmieden großer Rachepläne.
Eine scheinbar versöhnliche Rachegeschichte wird “Tomatenrot” natürlich nicht. Der Autor gesteht seinen Protagonisten die Attitüde zu, doch scheitert die Umsetzung zwangsläufig, weil das erlösende Wohlfühlmoment zugunsten einer realistischeren Entwicklung ausgespart wird. Ein so konsequenter wie schmerzhafter Schluss ist die Folge. Es wird einen überraschenden Aufbruch geben, einen zögerlichen Stillstand und einen brutalen Absturz. “Jetzt wisst ihr alles” ist der letzte Satz des Romans. Das fieseste Finale, das man sich nur vorstellen kann. Denn wir wissen kaum etwas. Mit einem einzigen Satz wirft uns Daniel Woodrell auf den Wissensstand seiner Figuren zurück. Der kaum darüber hinausgeht, dass man einen Tag nach dem anderen angehen soll. Fällt gar nicht so schwer in Gefängnisklamotten.
Ist “Tomatenrot” eigentlich ein Krimi, fragte ein Kollege und Freund vor kurzem. Es gibt einen Mord, Polizei kommt vor, Kriminalität bestimmt das Leben nahezu aller vorkommenden Personen. Okay, Ermittlungen finden, zumindest von offizieller Seite, nicht statt, die inoffiziellen werden schnell unterbunden. Doch bleibt der Todesfall im Zentrum, entscheidet viel Relevantes, lässt Lebenswege entstehen, scheitern oder wachsen. “Country Noir” wird die Nische genannt, in der sich Daniel Woodrell eingerichtet hat. Es gibt schlechtere Etiketten.
Klare Sprache, Poesie durch bestmögliches Understatement; Woodrell gelingt das Kunststück, jenen Menschen eine Sprache zu geben, denen man eigentlich jede Sprachgewandtheit abspricht. Nie von oben herab, sondern immer mittendrin. Gedachtes, Ungesagtes, Vorschnelles. Auf den Punkt gebracht, ergibt das große Literatur.
Das Anwesen war genauso, wie ich mir eine Villa vorgestellt hatte, nur noch schlimmer. In meiner Angst davor hatte ich es nie geschafft, mir die Einzelheiten vorzustellen. Eine kurze Bestandsaufnahme, dieses einen Raums – und schon hasste ich mich. Ich hasste mich und alle von meiner Sorte vor mir. Dieses Haus stand zig Ebenen über jedem, in dem ich jemals gewesen war.
Das Große im Kleinen ausdrücken gelingt kaum jemand besser als Daniel Woodrell. Pete Dexter vielleicht. Donald Ray Pollock und James Sallis. Liebeskind-Autoren.
Geht los, kauft, lest!
Cover © Liebeskind Verlag
- Autor: Daniel Woodrell
- Titel: Tomatenrot
- Originaltitel: Tomato Red
- Übersetzer: Peter Torberg
- Verlag: Liebeskind
- Erschienen: 25.01.2016
- Einband: Hardcover
- Seiten: 222
- ISBN: 978-3-95438-060-2
- Sprache: Englisch
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