Die junge Supermarktverkäuferin Denise kämpft sich mäßig zufriedenstellend durch ihr unaufregendes Leben. Der Traum von einer New-York-Reise ist stets da, aber er scheint immer unerreichbarer. Als Alleinerziehende versucht sie mit ihrer verhaltensauffälligen Tochter Linda klarzukommen, und da auch etwas Geld verdient werden will, sitzt sie beim Discounter an der Kasse. Das Liebesleben besteht lediglich aus ein paar Affären, die so schnell vorbei sind, wie sie angefangen haben. Für weitere temporäre Glücksgefühle sorgt ihr gelegentlicher Speed-Konsum. Aus einer Laune heraus entschließt sie sich, sich für einen Pornodreh vor die Kamera zu wagen. Doch die 3000 Euro, die ihr zugesichert wurden, lassen auf sich warten. Ohnehin fragt sie sich, ob diese Aktion nicht doch eine ziemliche Dummheit war, denn in ihren Supermarktschichten wird sie zunehmend von der Angst verfolgt, erkannt zu werden. Doch immer häufiger kommt ein Mann zu ihr an die Kasse, zerlumpt, streng riechend, etwas sonderbar, aber erfrischend charmant.
Anton.
Vor einigen Jahren ging es Anton noch gut – er hatte hinsichtlich Beruf gute Perspektiven, begann ein Studium und konnte sich auch über das Zwischenmenschliche nicht beschweren. Doch schon während des Studiums rutschte er aus der Spur und stürzte letztendlich komplett ab. Alkoholexzesse waren nur der Anfang, und durch sein immer unkontrollierteres Auftreten in der Öffentlichkeit war es nicht weiter verwunderlich, dass er hier und dort auch Hausverbot erteilt bekommen hat. Und bald wurde aus dem verschuldeten Pleitegeier ein obdachloser verschuldeter Pleitegeier, der im Wohnheim immerhin warme vier Wände um sich herum hat. Immerhin. Die Privatinsolvenz steht jedoch kurz bevor, der Gerichtstermin rückt immer näher – dreitausend Euro sind es, die ihn vom endgültigen Untergang retten könnten. Ihm zur Hilfe stehen sein früherer Kommilitone Herrmann sowie dessen Ehefrau Cathrin (die einst auch mal eine Affäre mit Anton hatte). Mehr schlecht als recht versucht sich Anton wieder aufzurappeln. Versucht frühere Kontakte wieder aufzufrischen. Ein Gescheiterter am Weiterscheitern. Aber diese junge Frau, bei der er gelegentlich seinen Leergutbon abgibgt und ein paar Kleinigkeiten kauft, gefällt ihm durchaus. Diese auf irgendwie prollige Weise hübsche Frau.
Denise.
Ohne sich wirklich dessen bewusst zu werden, steuern die beiden in ihrem Leben aufeinander zu. Denise ist immer mehr hin- und hergerissen zwischen zwei Entscheidungen: Wenn sie irgendwann das Geld vom Pornoproduzenten bekommt (welchen sie im Verlauf der Geschichte auch aufsuchen wird) – wird sie dann endlich mit Linda nach New York fliegen? Oder wird sie Anton aus seiner finanziellen Not befreien?
Sicherlich ist “3000 Euro” auf gewisse Weise vorhersehbar, vor allem auch, weil innerhalb der sieben Kapitel nahezu streng zwischen den beiden hin- und hergewechselt wird. Erst erfährt man ein wenig etwas von Anton, dann von Denise – und so bekommt man Stückchen für Stückchen zweigleisig und chronoglogisch nahezu gleichauf mit, wer diese beiden Menschen sind, die sich irgendwo am unteren Rand der Gesellschaft befinden und sich mit den Resten der Lebensfreude zurechtfinden müssen. Die einen nahezu aussichtslosen Kampf kämpfen müssen, um irgendwo ihren Platz zu finden und ihr Leben lebenswert zu gestalten. Aus ihrem Leben ein Leben mit ein paar Probleme zu machen und nicht in einem riesigen Problem namens Leben stecken zu bleiben. Eines, das keines ist. Wenn man schon arm ist, dann sind Respekt, Anerkennung oder Liebe die einzigen Werte, aus denen man Reichtum bilden kann. Hierbei bekommt man ungefiltert und ungeschont einen Einblick in die Gedankenwelt der beiden. Und man wird Zeuge, wie sich Denise und Anton immer ein wenig mehr füreinander interessieren.
Thomas Melle, der 2011 mit “Sickster” debütierte, scheint als Autor ein Faible für die Absteiger und die nie nach oben Gekommenen zu haben, denn er geht in seiner Schreiberei völlig auf. Er nimmt den Dreck von der Straße mit in seine Sätze, die Gerüche, den Dreck unter den Fingernägeln der Gesellschaft. Das Liegengelassene. Der Staub unter den Fußsohlen der Desinteressierten. Inmitten all dieser stinkenden sozialen Suppe aus Behörden-, Jobcenter- und Amtsbesuchen, Ablehnung, Angst, Verachtung, menschlichem Bodensatz und schmutzigen Steinen, die im Weg liegen, schillern die fragilen positiven Dinge wie Zuneigung, Hoffnung, Liebe und Schönheit bedrückend-ergreifend hervor und morphen “3000 Euro” zu einer packenden Mixtur aus fiktiv dokumentierender Gesellschaftsstudie und einer herzerwärmenden Liebesgeschichte. Kälte (das Außenherum) und Wärme (die inneren Strohhalme, an die man sich klammert) erzeugen eine Reibung, die den Roman auflädt – und im Leser ein stürmisches Gewitter der Gefühle und Eindrücke entstehen lässt.
Mag man die Direktheit und die Intensität, die hiesige Autoren wie Nils Mohl, Oliver Uschmann (in dessen Jugendromanen, wohlgemerkt – allen voran “Das Gegenteil von oben”) oder Benedict Wells (speziell “Spinner”) auszeichnet, gepaart mit einer Extraschippe Schmutz, wird man auch an Thomas Melles aktuellem Werk kaum vorbei kommen. Als Orientierungshilfe, wohlgemerkt, nicht etwa als Vergleich.
Cover © rowohlt Berlin
Wertung: 14/15 dpt
- Autor: Thomas Melle
- Titel: 3000 Euro
- Verlag: rowohlt Berlin
- Erschienen: 08/2014
- Einband: AGebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 208
- ISBN: 978-3-87134-777-1
- Sonstige Informationen:
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