Deutschland und seine Vergangenheit, ein leidiges Thema. Im Ausland überwiegen bis heute die Bilder der NS-Zeit, auch weil Hollywood „den Deutschen“ noch immer oft und gerne als Nazi darstellt. Aber auch auf deutscher Seite wünscht man sich mehr Varianz, sowohl was Filme und Serien als auch Dokumentationen angeht. Das Motto sollte häufiger lauten: Manchmal ist weniger mehr. Denn irgendwann fehlt (bei allem Respekt vor der Arbeit der Forschenden) die nötige Distanz, um sich noch schocken zu lassen, denn die Zahl derjenigen, die einen Krieg und/oder dessen Folgen am eigenen Leib haben, schwindet mit jedem Tag. Dabei wäre es bei der momentan extrem aufgeheizten Stimmung angesagt sich zu vergegenwärtigen, dass es uns heute extrem gut geht.
Um der Abstumpfung entgegenzuwirken, gibt es mehrere Strategien: Ein Besuch der KZ-Erinnerungsstätten lässt das Leid in einer Art erfahrbar werden, wie es Filme niemals werden schaffen können, auch wenn in ihnen der Krieg in den Alltag und der Sieg der Nazis durchgespielt werden. Ein anderes, wenn auch ähnlich abgehalftertes Argument wäre, doch mal über den Tellerrand zu schauen, wie es anderen Ländern zurzeit geht. Das wird zwar nicht die Hauptidee Joshua Oppenheimers gewesen sein, als er zwischen 2004 und 2012 viel Zeit in Indonesien verbrachte, einem Land, das die westliche Welt kaum zur Kenntnis nimmt. Trotzdem fällt sofort die Parallele zu Deutschland auf: ein gewaltbereiter Aufstand für eine Ideologie und ein Massenmord.
In den Jahren 1965 und 1966 ist in dem heute 255 Millionen Bürgerinnen und Bürger zählenden Land ein Massenmord verübt worden, den das Militär infolge einer unübersichtlichen Lage nach einem (angeblichen) Putschversuch und angetrieben von der Propaganda der Amerikaner organisierte. Ziel der Soldaten und der aus Bürgern bestehenden „Todesschwadronen“ waren Kommunisten, Chinesen und all diejenigen, die mit „linkem Gedankengut“ sympathisierten. Das Tragische und gleichzeitig Interessante daran ist, dass aus unserem von westlichen Werten geprägten moralischen Verständnis heraus „das Böse“ gesiegt hat. Oppenheimer hat in diesem – akademisch formuliert – Fallbeispiel für Massenmord eine einmalige Chance, die sich aus dem Umgang mit den Taten ergibt.
„The Act Of Killing“, der prämierte Dokumentarfilm des Regisseurs, bildet ein durch und durch kaputtes Land ab, in dem die Aufarbeitung der Taten von dem Faktum blockiert wird, dass die Täter heute an der Macht sind. Wer sich regierungskritisch äußert, wird schnell Bekanntschaft mit einem Schlägertrupp machen. Das ist in etwas abgeschwächter Form das, was man sich von dem Gedankenexperiment verspricht, dass die Nazis die Weltherrschaft an sich gerissen hätten. Aber auch hier geht es Oppenheimer nicht in erster Linie darum, Vergleiche mit Hitler-Deutschland und dem Holocaust zu ziehen, er unternimmt eine psychologische Studie, nach der Forschende auf der ganzen Welt verzweifelt suchen. Dabei verbirgt sich hinter dem Projekt ein einfacher Kunstgriff.
Oppenheimer und sein Team stießen bei ihrer Arbeit in Indonesien auch auf einige der Täter von damals und kamen erstaunlich unkompliziert mit ihnen in Kontakt. Die USA, das ist der große Bruder, das war der Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus, und deswegen sind die Amerikaner Freunde Indonesiens. Noch überraschter zeigte sich die Crew allerdings über die Offenheit im Bezug auf die Schilderung ihrer Taten. Bereitwillig erzählten sie detailliert und in aller Brutalität vom Massaker an den Kommunisten und scheinbar waren sie stolz darauf. Oppenheimer entwickelte die Idee, diese Offenheit zu nutzen und bot ihnen an, einen Film darüber zu drehen, was sie vor gut 50 Jahren erlebt hatten. Bei der Ausführung genossen die Teilnehmer alle künstlerischen Freiheiten und nutzten diese ganz im Sinne ihrer (zumeist amerikanischen) Lieblingsfilme aus. Daraus entstand ein bunter, surrealer und anregender, aber auch schonungsloser Dokumentarfilm über einen Film, über dessen Entstehung und gleichzeitig über die Mitwirkenden, über deren Leben und Taten, sowie nicht zuletzt über die Psyche eines ganzen Landes.
Eigentlich verband Oppenheimer dabei lediglich das Medium Film (in doppelter Hinsicht) mit psychologischen und sozialwissenschaftlichen Methoden wie der „oral history“ und der „freien Assoziation“ und brauchte eigentlich nur noch abzufilmen, wie sich die Täter selbst erfuhren. Ein wichtiges Projekt für die indonesische Gesellschaft, denn für sie ist der Massenmord ein Tabuthema, das durch systematische Propaganda, die schon in der Schule beginnt, entstanden ist. „The Act Of Killing“ ist einer der wenigen Meilensteine in der neueren Filmgeschichte, der sowohl in künstlerischer als auch in inhaltlicher Hinsicht Maßstäbe setzt. Doch Oppenheimer sprach schon früh davon, dass er mehr oder weniger parallel noch an einem zweiten Film arbeitete, der sich mit derselben Thematik beschäftigt. Die Idee lag nah, dass es sich dabei um etwas handeln könnte, was man in der Musik als „B-Seiten-Album“ bezeichnet, Szenen und Handlungsstränge, die nicht „gut“ genug für den Hauptfilm waren oder die üppige Laufzeit noch weiter nach oben geschraubt hätte.
„The Look Of Silence“ ist aber alles andere als das Ergebnis einer Resteverwertung. Rein von der visuellen Erfahrung kann der Film nicht mit seinem Vorgänger mithalten, das will er aber auch gar nicht und hat er auch gar nicht nötig. Die Idee ist ähnlich simpel, aber noch erstaunlicher als bei „The Act Of Killing“: Angehöriger eines Opfers trifft Täter. Stoff für zahlreiche Rachefilme, in der Realität jedoch ein höchst seltener Fall. Adi ist Brillenmacher und besucht seine Kunden regelmäßig. Ein Aufhänger, den er mit dem Team um Oppenheimer an der Seite nicht nur metaphorisch dazu nutzt, mit Dorfbewohnern und schließlich den Tätern ins Gespräch über die Jahre 1965 und 1966 zu kommen. Er nutzt diese Chance, um mit viel Mut und Fingerspitzengefühl unangenehme Fragen zu stellen. Nun ist es möglich, dass er sich im Vorhinein zusammen mit Oppenheimer auf diese Gespräche vorbereitete, nimmt der Regisseur seine Rolle jedoch ernst, wird er einfach nur die Kamera draufgehalten haben.
Dann nämlich ist es von höchster Brisanz, was dort vor sich geht. Mit jeder Frage, die Adi mit Bedacht stellt, entblättert sich die Psyche des Gesprächspartners, gibt das Grundgerüst der eigenen Identität preis und legt das wackelige Fundament frei, auf das sich ganze Leben stützen. Denn jede Schicht ist aus Lügen gemacht, aus Abwehrreaktionen, Verdrängungsprozessen und anderen psychischen Mechanismen und Techniken, die wahrscheinlich zum ersten Mal auf ihre Widerstandsfähigkeit hin überprüft werden. Dass es völlig banale und einfache Fragen sind, die das fast schon beobachtbare Abpellen jeder dieser Schichten auslösen, führt noch einmal vor Augen, wie marode der Staat Indonesien und seine Bevölkerung sind, schließlich ist der Reichtum der Täter auf schwere Taten zurückzuführen.
Adi trifft Verwandte und Fremde und bleibt erstaunlich ruhig, obwohl er vor laufender Kamera mit den brutalen Details des Mordes, mit Lügen und gar mit offenen Drohungen gegen seine Person konfrontiert wird. Seine offenste Gefühlsregung ist ein Blick in die Kamera, der Verzweiflung und Wut zeigt, ein Hilferuf wider der zermürbenden Machtlosigkeit. Das Dilemma wird auch an den Eltern Adis offensichtlich, ein uraltes Ehepaar, deren leise Trauer aber nur in ihrem ebenso leisen und wohl unbewussten Entschluss zu vergleichen ist, nicht sterben zu wollen. Die Androhung von Gewalt ist wirkungsvoll, deswegen verbergen sich auch die meisten Crewmitglieder unter dem Banner „anonym“, Frau und Mutter haben Angst um Adi und über die Taten zu sprechen, ist ein Tabu, auch weil man Tür an Tür mit den Mördern lebt. Ihre Lügen bereuen die Täter nicht, obwohl sie völlig eindeutig als solche aufgedeckt werden, aber Adi zeigt auf, dass sie alle Schuld fühlen. Es sind diese Momente, die etwas über den Menschen erzählen, über sein Wesen und seine Moral, denn keiner der gezeigten Personen scheint mit sich im Reinen zu sein. Die Schuld der Morde lastet auf jedem, was sich unterscheidet sind die Techniken mit dem Umgang, die von Verdrängung bis Bluttrinken reichen, aber als einziges die Aufarbeitung auslässt.
Diese Gespräche, die Interaktionen, Gesten und Blicke sind so intensiv, dass der Film keine weiteren Schauwerte braucht. Oppenheimer beschränkt sich auf einige Landschaftsaufnahmen, die das heutige Indonesien zeigen, ein scheinbar ruhiges, aber auch in der Zeit steckengebliebenes Land. Beides sagt etwas über die Seele des Landes aus, nur selten lehnt sich Oppenheimer zu weit aus dem Fenster, wenn er zum Beispiel die erleuchtete Hütte zeigt, in der Adis Eltern wohnen. Dort scheint etwas zu sehr die westliche, liberale Message durch, die der Regisseur ansonsten fast immer umgehen kann, weil er den anderen die Arbeit überlässt.
Es geht also um die Frage, inwieweit ein Film den Zuschauer nicht immer manipuliert und was der Dokumentarfilm als eigenes, als distanziert geltendes Genre vor diesen Gefahren gefeit ist. Oppenheimer erinnert nicht nur durch seine Stimme an Werner Herzog, der übrigens aus offensichtlichen Gründen die letzten beiden Filme des Regisseurs produzierte, auch in der Herangehensweise ähneln sich die beiden, auch wenn Oppenheimer auf Off-Kommentare komplett verzichtet und auch nur selten ins Geschehen eingreift. Hier tut er das nur einmal, im Vorgänger häufiger, weil er sich selbst als Interviewer versteht. Vielleicht hat er mit „The Look Of Silence“ einen Weg gefunden, diese mögliche Schwachstelle zu schließen, denn obwohl er sich keiner großen Schnitzer erlaubt, ist die Gefahr groß, in einer von Spontaneität geprägten Situation falsche Entscheidungen zu treffen.
Doch davon abgesehen schafft Oppenheimer ein weiteres, wegweisendes Werk, das den Dokumentarfilm beeinflussen wird. Das liegt auch daran, dass der Film auf viele weitere Thematiken aufmerksam macht bzw. sie offenlegt, über die nachzudenken sich lohnt. Das ist zwar nicht immer einfach, weil sich der Zuschauende dafür mit der brutalen Seite der Menschheit, aber auch seiner eigenen Schuld auseinandersetzen muss. Gerade der Einfluss der Amerikaner wird durch beide Filme offensichtlich und sollte gerade in Zeiten, in denen sich die USA immer noch als „Befreier“ verstehen und sie andererseits auch unseren Alltag massiv gestalten, hinterfragt werden. Aber genau das ist die Chance, die ein solcher Film bietet: Sich selbst hinterfragen, die eigene Psyche erforschen und Schlüsse daraus ziehen. Weiter würde auch Oppenheimer nicht gehen wollen, wenn er über seine Ziele spricht, auch wenn sich ein Ergebnis relativ deutlich abzeichnet: Jeder „gesunde“, zivilisierte Mensch hat eine Vorstellung und ein Konzept von Moral, in dem Mord etwas „Falsches“ ist. Das könnte ein Beitrag zur Frage sein, wie wir zu allgemeingültigen Menschenrechten kommen oder zumindest, ob nun ein Ruck durch Indonesien geht. Aber auch das könnte nur eine westliche Lesart sein.
FAZIT: „The Look Of Silence“ ist nicht einfach eine Fortsetzung von „The Act Of Killing“, es ist eine wichtige Ergänzung, die beide Filme zu einem größeren Ganzen werden lässt. „The Look Of Silence“ ist vielleicht nicht so bombastisch wie der Vorgänger, dafür ist hat Regisseur Joshua Oppenheimer mit wenigen Mitteln einen intensiven Dokumentarfilm geschaffen, der sein Genre verändern wird. Das Werk strahlt über sich hinaus, weil es die individuelle und kollektive Seele der indonesischen Gesellschaft freilegt, aber auch die Psyche eines jeden Menschen erkundet. In wenigen Momenten kann Oppenheimer die Distanz nicht gänzlich halten und macht selbst auf dem immerwährenden Vorwurf aufmerksam, Film kann nicht nicht manipulieren. Doch weil „The Look Of Silence“ beweist, dass das Medium Film noch lange nicht ausgeforscht ist und über sich hinaus weisen kann, sollte Oppenheimer nach zahlreichen Auszeichnungen endlich mit einem Oscar bedacht werden, auch damit der Preis endlich wieder seiner Aufgabe nachkommt.
P.S.: Wieder einmal schade, dass kaum ein Kino diesen Film vor ein paar Monaten gezeigt hat.
Cover & Stills © Koch Media Films
Wertung: 14/15 dpt
- Titel: The Look Of Silence
- Produktionsland und -jahr: Dänemark/Finnland/Indonesien/Norwegen/Großbritannien, 2014
- Genre: Dokumentarfilm
- Erschienen: 28.01.2016
- Label: Koch Media
- Spielzeit:
99 Minuten auf 1 DVD
103 Minuten auf 1 Blu-Ray - Regie: Joshua Oppenheimer
- Kamera: Lars Skree
- Schnitt: Niels Pagh Andersen
- Extras: Trailer
- Technische Details (DVD)
Video: 1,78:1 (16:9)
Sprachen/Ton: Indonesisch, Javanesisch
Untertitel: D
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 1,78:1 (16:9)
Sprachen/Ton: Indonesisch, Javanesisch
Untertitel: D
- FSK: 12
- Sonstige Informationen:
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