Vor der “Opera”- Rezension noch einmal ein kurzer nostalgischer Ausflug zu jenem Kinoerlebnis in Avignon, das ich bereits in der Dracula 3D-Rezension erwähnte. Quasi das schriftliche Äquivalent zu einem Audiokommentar. Der auf der neuen, technisch sauber bearbeiteten “Opera”-Version von Dr. Marcus Stiglegger und Kai Naumann so kompetent wie launig gesprochen wird. Dabei unterschlagen die beiden Filmwissenschaftler, bei allen berechtigten lobenden Worten, die Schwächen von Dario Argentos Werk nicht, und ordnen es nachvollziehbar und wohl begründet als frühen Meta-Giallo ein. Es ist höchst unterhaltsam und informativ, dem Film mit den beiden Sprechern zu folgen.
Zurück nach Avignon, das ich während des jährlichen Theaterfestivals zum ersten Mal besuchte. Ein berauschendes Erlebnis, der ganze Ort war eine große Bühne, Aufführungen jeder Art an allen möglichen Plätzen, zu jeder Zeit und Gelegenheit. Eine Atmosphäre, in der Kunst und Leben verschmolzen zu etwas, das wirklich gut war. Für einen Moment.
Drei Jahre später, außerhalb des Festivalrummels, war weniger los, Avignon dennoch ein geschichtsträchtiger, beinahe musealer Ort. Damals hatte ich mir angewöhnt, wenn möglich, bei jedem Auslandsaufenthalt ins Kino zu gehen. “Goodbye Emmanuelle” auf Französisch in Paris hatte seinen eigenen Reiz (obwohl der Film grottenlangweilig war), die italienische Ausgabe von Clint Eastwoods Buddy Movie mit Orang Utan, “Every Which Way But Loose” (“Der Mann aus San Fernando”), im Skiurlaub konnte nur gewinnen (wobei mich der unbekanntere Rene Daalder-Slasher “Massacre at Central High” mehr beeindruckte. Vor allem wegen einer bestimmten Szene. Spoilerwarnung: Turmspringer im Hallenbad, dessen Licht anscheinend defekt ist, macht nichts, der Sprung sitzt und klappt auch in der Schwärze der Nacht. Denkste. Springer springt, Killer schaltet das Licht ein. Wasser im Becken wäre nicht schlecht) und Eberhard Schröders deutschsprachiges Schulmädchen-Rip-Off “Die Klosterschülerinnen” mit Untertiteln im damaligen Jugoslawien hatte eine nahezu surrealistische Note.
Doch die wahre Magie des Kinos erlebte ich damals im Utopia in Avignon. Ein zwischen Barock und Art Deco ausgestattetes Kino, goldgerahmte Bilder an den Wänden, Putten und Skulpturen in den Gängen und am Rande der Leinwand; die Wände rot, die Sitze rot und passenderweise lief “Profondo Rosso” in seiner englischsprachigen Ausgabe (“Opera” wäre ebenfalls sofort dort heimisch gewesen). Damals kannte ich Dario Argento und seine Filme noch nicht. “Deep Red” haute mich um. David Hemmings Verlorenheit in der Giallo-Variation von Antonionis “Blow Up”, seine verzweifelten Versuche des Horrors, der um ihn herum ausbricht, Herr zu werden, die hypnotischen Kamerafahrten, das Vergrößern von Partikeln zu ganzen Welten, der kongeniale Einsatz des hervorragenden Goblin-Soundtracks, die krude, psychoanalytisch eher archaische, aber auf ihre Weise stimmige Story, die rohe und trotzdem kunstvolle Gewalt; kurz, dieses Gefühl von einem perfekten Alptraum eingesogen zu werden, verschmolz nahtlos mit der Architektur um mich herum, ich wurde Teil des Films. Ein Effekt, den “Opera” durch seine Kamerafahrten aus subjektiver Perspektive noch einmal potenziert.
Zwei Tage später habe ich ihn mir noch einmal angeschaut. Mit ähnlichem Ergebnis. Diesmal entdeckte ich den versteckten Killer zu Beginn des Films. Eine Option, die Dario Argento dem aufmerksamen Zuschauer tatsächlich bietet. Außer auf der Jahre später erschienen deutschsprachigen Videokassette. Dort waren zugunsten des Vollbilds die Ränder derart beschnitten, das der Killer aus dem Bild fiel. Die kurioseste Szene in dieser Version war aber ein Dialog zwischen David Hemmings und Gabriele Lavia, die sich, durch einen Brunnen getrennt, unterhalten. In der deutschen Fassung sieht man nur den Brunnen und hört Stimmen Von irgendwoher. Mittlerweile gibt es bildmäßig zahlreiche adäquatere (ausländische) Ausgaben auf DVD und Blu Ray. Sehr zu empfehlen.
Ich hätte mir “Deep Red” auch ein drittes Mal angetan, doch wir verließen Avignon und meine Freunde daheim sahen sich wochenlang Zitaten aus dem Film ausgesetzt (“Im not an architect, I’m a piano player” und so). Es dauerte eine Weile bis ich “Suspiria”, “Inferno”, “Tenebrae” und “Phenomena” zu Gesicht bekam – wenn ich mich recht erinnere geht der Dank wie bei so vielen anderen Werken ans Videodrom in Berlin – ebenso wie “Terror in der Oper” aka (nicht ganz unpassend) “Der Flug des Raben”. Die sehr freie Variante von Gaston Lerouxs “Das Phantom der Oper” landete damals sofort auf dem Index und erschien lediglich derbe geschnitten, trotzdem ohne Jugendfreigabe. Die neu geprüfte und vom Index genommene Ausgabe ist erfreulicherweise ab 16 freigegeben und tatsächlich ungeschnitten. Etwas anderes wäre angesichts der Blutfontänen in aktuellen Fernsehserien und Mainstream-Blockbustern kaum zu rechtfertigen.
Die erste Bluttat lässt etwas auf sich warten. Zunächst verfolgen wir mit Rabenaugen den Weg der kapriziösen Sangesdiva Mara Czekova von der Bühne bis zu einem (unblutigen) Autounfall vor dem Opernhaus. Bereits an dieser frühen Stelle begibt sich Argento ins Zentrum des Films. Es geht ums Sehen und Gesehen werden, um Wahrnehmung und das dem Kino immanente “die Augen nicht verschließen können”. Die gehässige Sängerin bekommen wir nie zu Gesicht. Lediglich ihr vergipstes Bein ist in einer späteren Szene im Sichtfeld der Kamera. Die Raben, die während der Probe durch’s Theater fliegen und Czekova aus der Fassung bringen, werden noch eine gewichtige Rolle spielen.
Der Ausfall der zeternden Hauptdarstellerin wird zur Chance für die Zweitbesetzung. Die labile Betty wird geplagt von traumatischen Erinnerungen an ihre Kindheit, sie fühlt sich zu jung für die Rolle der Lady Macbeth, außerdem bereitet ihr Sorge, dass die Verdi-Oper unter einem Fluch stehen soll. Eine, auch in der Realität, weitverbreitete Legende. Bettys Agentin, dargestellt von Daria Nicolodi sowie der Regisseur Marco (in der deutschen Fassung nur “Marc”) bemühen sich intensiv, die junge Frau zu ihrem ersten großen Auftritt zu führen. Es gelingt und wird – trotz eines tödlichen Zwischenfalls in einer der Logen – zu einem triumphalen Erfolg für Betty.
So ganz erledigt hat sich die Sache mit dem Fluch für die Aktrice aber nicht. Denn auf einmal steht ein Stalker auf der Matte, der sie an seinen brutalen Metzeleien teilhaben lässt. Gefesselt und mittels unter den Lidern angeklebten Nadeln zum Zusehen gezwungen, wird sie Augen-Zeugin wie ein Vermummter Freunde und Kollegen tötet. Dabei ähneln die Morde fatal den alptraumhaften Erinnerungsfetzen, die Betty mit ihrer Mutter, ebenfalls zu Lebzeiten eine arrivierte Opernsängerin, weiblichen Opfern und einem maskierten Killer verbindet.
Natürlich wird die Vergangenheit eine gewichtige Rolle bei Ursache und Aufklärung der Verbrechen spielen, genau wie die Raben aus der Anfangsszene, deren elefantöses Gedächtnis die Mördersuche entscheidend vorantreiben wird. Am Ende wird es noch eine Volte in Gestalt eines Epilogs geben, der u.a. vom amerikanischen Verleih heftig abgelehnt wurde. Doch Argento beharrte darauf, und er tat gut daran. Denn der ambivalente Wahn- und Insiderwitz, der der Schlusssequenz innewohnt, passt – trotz des radikalen Schauplatzwechsels – zum vorangegangenen Film.
Die Szenen auf der Bergwiese nahe einer Schweizer Pension verweisen offensichtlich auf Dario Argentos vorangegangenes Werk “Phenomena” und betonen noch einmal, dass der Regisseur Marco, der eigentlich Horrorfilme dreht und so gerne eine Oper – mit den Mitteln seiner Filme – inszenieren möchte, eine wenig verklausulierte Inkarnation Argentos selbst ist, der wenig freundlich mit sich umspringt (während die Kritiker Bettys Leistung alleweil loben, wird die Vermessenheit des Schöpfers bluttriefender Unterhaltung, eine klassische Oper in Szene setzen zu wollen, hämisch verurteilt. Schuster, bleib bei deinen U-Leisten, das E überlasse den Maestros würde man hierzulande wohl sagen).
“Opera” ist ein wegweisender ‘Meta-Giallo’, worauf im Audiokommentar mehrfach schlüssig eingegangen wird. Die Handlung spielt nur eine untergeordnete Rolle, Logiklöcher und szenische Brüche kann man locker hinnehmen, die schauspielerischen Leistungen umfassen wild gestikulierende Chargen, die man im falschen Film wähnt, zaghafte Amateure und solide Profis, die ihren Job angemessen und erfreulich unaffektiert erledigen. Das gilt besonders für Ian Charleson, in seiner letzten Rolle, als arg blondierter Marco und Hauptdarstellerin Cristina Marsillach, deren Synchronstimme allerdings besser zu einem Kinderfilm passen würde. Die hilflose Passivität und Naivität der aufstrebenden Sängerin wird so indes besonders betont.
Auch was die psychoanalytischen Ansätze angeht, bleibt Argento in der Charakterentwicklung und -zeichnung ein Grobmotoriker. Ganz anders sieht es auf der visuellen Seite aus. Virtuose Kamerafahrten, raffinierte Schnitte, stimmiges Dekor und höchst unterschiedliche Räumlichkeiten, die von der Kamera in ihren ganzen Verästelungen und toten Winkeln erfasst werden, geben mehr über das Innenleben der Figuren preis als Dialoge und Verhaltensmuster.
Gewagt, aber durchaus überzeugend, ist die Verbindung von (höriger) Liebe, Sex, Obsession, Gewalt und Tod, die neben der graphischen Drastik vermutlich der Hauptgrund für frühere Kürzungen und Indizierungen gewesen sein dürfte. “Opera ist ein perverser Film”, stellt Marcus Stiglegger fest, beziehungsweise ein Film über Perversion. Argento begibt sich nicht auf eine Ebene mit seinen derangierten Protagonisten. Er schwebt, vor allem kameratechnisch (dank Ronnie Taylor), darüber.
Wie in der bekanntesten Szene des Films, in dem die Kamera mittels eines komplizierten Aufbaus (weit vor CGI) beeindruckend den Flug eines Raben durch den Opernsaal simuliert. Hier wird die visuelle Komponente der Wahrheitssuche auf die Spitze getrieben und endet konsequent mit dem strafenden Herausreißen eines Augapfels. Der forschende wie der böse Blick müssen eliminiert werden. Es wird im Verlaufe des Films mehr als ein Auge zerstört.
“Opera” nutzt die Zeichensprache des Giallo für ein mehrdeutiges, spannendes Essay, dessen Ebenen – abgesehen vom löchrigen Plot – nahtlos und elegant ineinander übergehen. Alleine Marcos Bühneninszenierung des Verdischen Macbeth ist ein optischer Genuss. Hier zeigt der “niedere” Horrorfilmregisseur wie eine moderne Operninterpretation aussehen könnte. Argento selbst hatte damals eine Aufführung des “Rigoletto” geplant, die allerdings scheiterte. Argentos Idee Vampirismus in das populäre Werk zu integrieren stieß auf wenig Gegenliebe. 2013 kopierte das Leben dann die Kunst und Dario Argento inszenierte im Theatro Coccia, Novarra einen modernisierten “Macbeth”.
Erwähnenswert wie üblich bei Argentos Filmen ist der Soundtrack. Er besteht erwartungsgemäß aus “Macbeth”-Auszügen und Kompositionen seines langjährigen Weggefährten Claudio Simonetti (Goblin), ergänzt um Beiträge Bill Wymans, Brian und Roger Enos, die Mordszenen – wieder auf “Phenomena” verweisend – werden vom rüden Metal der gänzlich unbekannten Band Steel Grave untermalt. Ein weiterer (ironischer?) Diskurs, der dem Töten genau jene Musik zumisst, die moralinsaure, schlichte Gemüter per se für Teufelswerk halten.
Technisch ist die Blu Ray sehr wohlgeraten, Bild und Sound sind überzeugend klar geraten. Die einzelne Blu Ray, die zur Rezension vorlag, weist neben dem Audiokommentar Trailer des Films aus sowie die kürzere Exportfassung. Im Verkauf ist “Opera” als Mediabook erhältlich, das neben der Film-Blu Ray noch zwei DVDS voller interessantem Bonusmaterials enthält.
Essenzielle Sätze:
“Raben sind sehr nachtragend, sie vergessen nichts, sie können sich noch Jahre später daran erinnern und im richtigen Moment … zack!”
Marco: “Ich denke Film und Realität sind zwei verschiedene Dinge!”
Inspektor Santini: “Kommt darauf an, was Sie unter Realität verstehen.”
“Wie kannst du mich lieben – ein Monster?”
Ein besonderes Dankeschön geht an die überaus freundlichen Agnes Salson und Mikael Arnal, deren Fotos des Utopia in Avignon ich verwenden durfte. Wenn ihr also mal dort weilt, geht ins Kino. Lohnt sich.
Utopia-Kinofots © tourdescinemas.com
Szenenfoto “Profondo Rosso – Die Farbe des Todes” (“Deep Red”) © Ascot Elite Home Entertainment
Cover & Szenenfotos “Opera” © Koch Media
- Titel: Opera
- Originaltitel: Opera
- Produktionsland und -jahr: Italien 1987
- Genre: Giallo, Horror, Mystery, Thriller, Arthouse, Psychedelic
- Erschienen: 26.11.2015
- Label: Koch Media
- Spielzeit:
107:19 Min. (OV) / 95:36 Min. (EF) Minuten auf Blu-Ray - Darsteller: Cristina Marsillach
Ian Charleson
Urbano Barberini
Daria Nicolodi
Coralina Cataldi-Tassoni
Antonella Vitale - Regie: Dario Argento
- Drehbuch: Dario Argento
- Kamera: Ronnie James
- Musik: Clkaudio Simonetti, Bill Wym,an, Brian u7nd Roger Eno, Steel Grave
- Extras: BD:
– Audiokommentar von Dr. Marcus Stiglegger und Kai Naumann
– Trailer Deutschland (1:46 Min.)
– Trailer Italien (1:24 Min.)
– Trailer USA (1:43 Min.)
– Trailer International (1:44 Min.)
– Bildergalerie
DVD:
Interview-Featurettes:
– „Blutroter Vorgang“ mit Regisseur Dario Argento (21:39 Min.)
– „Wer hat das getan und wer bin ich?“ mit Autor Franco Ferrini (35:52 Min.)
– „Noten und Albträume“ mit Komponist Claudio Simonetti (29:47 Min.)
– „Die Rache der Krähen“ mit Animatronikkünstler Sergio Stivaletti (15:09 Min.)
– „Der Fluch von Macbeth“ mit Publizist Enrico Lucherini (13:31 Min.)
– „Mit offenen Augen“ mit Filmhistoriker Fabrizio Spurio (36:11 Min.)
– „Terror im Kino“: Q&A-Runde zum Film mit Regisseur Dario Argento und Autor Franco Ferrini und Regisseur Lamberto Bava (25:30 Min.)
– Daemonia Musikvideo (4:52 Min.)
– Claudio Simonetti Musikvideo (2:35 Min.)
– 16-seitiges Booklet von Oliver Nöding
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2.35:1 (16:9)
Sprachen/Ton: Deutsch, Italienisch, Englisch, Dolby Digital 2.0
Untertitel: D - FSK: 16
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt