Die Kinder hatten keine Namen, sondern Nummern, und so wurden sie auch behandelt. In den vom Staat finanzierten und von der katholischen Kirche betriebenen irischen Kinderheimen und Besserungsanstalten waren körperlicher, sexueller und emotionaler Missbrauch an der Tagesordnung.
Quelle: taz.de vom 21. 5. 2009
Robert “Red” Dock wuchs in einem dieser Kinderheime auf. Sein Zwillingsbruder Sean wurde darin ermordet. Zu Arbeitseinsätzen geschickt, misshandelt und schließlich von einem geistlichen Bruder totgetreten. Kein Einzelschicksal. Prägend, nicht nur für Red Dock.
Der nach seiner Entlassung aus dem Heim in die Unterwelt abtaucht und sich dank seiner Intelligenz, seines strategischen Geschicks und seiner Rücksichtslosigkeit als Mann im Hintergrund durchsetzt. Der insgeheim an einem langwierigen, komplexen Racheplan arbeitet. Rache, nicht an der menschenverachtenden Bruderschaft, die das Waisenhaus, in dem er und sein Bruder untergebracht waren, leiteten, nicht an der katholischen Kirche überhaupt, sondern an den Menschen, von denen sich Red Dock verraten glaubt. An seinen älteren Geschwistern und an dem Mann, der das Zwillingspaar ins Waisenhaus brachte, nachdem die Mutter der beiden Jungen am Steg der Fähre nach Liverpool tot zusammengebrochen war.
Die Witwe versuchte die Flucht nach England, genau wissend, welches grauenhafte Schicksal die Kinder alleinstehender Mütter erwartete, in einem Land, in dem Staat und Kirche ein gut geöltes, perfides Missbrauchssystem betrieben, das sich “verlorener Schafe” mit Genuss und Schlägen annahmen. Ihr überraschender Tod führte genau zu dem Ergebnis, das sie eigentlich vermeiden wollte.
“Spielarten der Rache” lässt den Leser teilhaben an Red Docks ausgetüfteltem Plan, einer bis ins letzte Detail durchkonzipierten Vergeltung, die nur ein bisschen ins Wanken kommt, als der Serienkiller namens “Piacsso” das Szenario blutig aufmischt. Red Dock ist intelligent und flexibel genug, diesen Umstand zu seinem Nutzen einzubauen. Was erleichtert wird, als Dock herausfindet, dass es sich bei Cornelius “Picasso” Hockler um einen Leidensgenossen aus Kindertagen handelt.
Obwohl es an expliziter Härte nicht mangelt, ist Smyth nicht daran interessiert, einen weiteren voyeuristischen Serienkiller-Thriller zum gänsehautfördernden Lustgewinn zu verfassen. Sein Cornelius Hockler ist eine weitere der zerstörten Seelen, die in irischen Heimen zuhauf produziert wurden, und wird zum zunächst unwilligen Handlanger eines noch mehr geschädigten Geistes. Mit dem Erkennen bekundet man sich gegenseitig Respekt. Ein Künstler, dessen Kunst ihren Ausdruck in blutigen Akten der Gewalt findet und ein rationaler Stratege von hohen Weihen: Konsequent verkehrt Seamus Smyth an und für sich positive Eigenschaften in ihre finstere Kehrseite. Die selbst nur ein Spiegel einer Kindheit ohne Hoffnung ist.
Gleichzeitig ist der mordende Picasso eine Ehrenbezeugung vor Derek Raymond, der derangierte Geister ähnlichen Kalibers in “Der Teufel hat Heimaturlaub” und “Ich war Dora Suarez” zum literarischen Leben erweckte. Findet auch in Herausgeber Frank Nowatzkis hervorragendem Vorort seine gerechte Erwähnung. Thomas Adcocks gleichnamiger, kunstbeflissener Soziopath mit demselben Künstlerpseudonym, ist ebenfalls nicht fern. Alleine diese Reminiszenzen machen aus Cornelius Hockler eine Figur, die weit übers Buch hinausweist.
Seamus Smyth glorifiziert den ausgeklügelten Pfad der Rache, den Red Dock wählt, nicht. Sein Roman ist kein Rape-and-Revenge -Thriller und auch kein neues “Death Wish”. Er weckt Sympathien für die misshandelten Kinder, zeigt akribisch welche geistigen Deformationen eine Gesellschaft erzeugt, die ein derartiges System des permanenten konstitutionellen und konstituierten Missbrauchs betreibt.
So gelingt es Smyth, dass man den Plan Red Docks, seine gesamten Geschicke fasziniert verfolgt, doch kaum Sympathie (wohl aber Mitleid) für ihn empfindet. Und Abscheu, denn die Personen im Mittelpunkt seines geduldig geplanten und ausgeführten Rachekonstrukts, sind selbst Opfer, schlimmstenfalls hilflose Handlanger, aber keine bewussten Täter.
Es ist eine Welt der heillosen Düsternis, in die “Spielarten der Rache” seine Leser hineinzieht, garniert mit abgründigem, schwarzem Humor, konsequent bis zum Schluss. Obwohl die Erzähler Red Dock, Picasso und Lucille im Mittelpunkt der vielschichtigen Handlung stehen, Verbrechen und ganz unterschiedliche Strafen breiten Raum einnehmen, wird der realistische, erschütternde und für Kirche und Regierung beschämende Hintergrund nie ausgeblendet. Das wahre Grauen braucht nur wenige, genau bemessene Zeilen, um sich seine Bahn zu schlagen. Und es bleibt völlig klar, trotz aller Faszination für einen schillernden Geist wie Red Dock, gehört “Spielarten der Rache” den Opfern.
Im bereits erwähnten, höchst lesenswerten Vorwort beschreibt Frank Nowatzki den steinigen Weg der Veröffentlichungen Seamus Smyths. Während der Autor und seine Bücher in Japan und Frankreich gefeiert werden, Pulp Master dankenswerterweise nicht an “Red Dock” vorbeikam und den Roman somit auf Deutsch zugänglich machte, fand der Autor in Irland keinen Verlag. An mangelnder Qualität kann es nicht liegen…
Cover © pulp master
- Autor: Seamus Smyth
- Titel: Spielarten der Rache
- Originaltitel: Red Dock
- Übersetzer: Ango Laina, Angelika Müller
- Verlag: pulp master
- Erschienen: 15.08.2015
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 267
- ISBN: 978-3-927734-61-6
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 dpt