Kleine Anmerkung vorneweg: Ich werde versuchen so wenig wie möglich zu spoilern, es völlig zu vermeiden, ist beim zweiundzwanzigsten Band eines groß angelegten Epos dennoch kaum möglich.
Eine große Schlacht ist geschlagen, nach verlustreichen Kämpfen konnten Rick Grimes und seine Verbündeten eine noch größere Bedrohung als den Governor zuvor ausschalten. Mit einem Unterschied: Rick ließ seinen Widersacher am Leben und steckte ihn ins Gefängnis. Nach all den Gemetzeln und vollstreckten Todesurteilen ein bewusst gewähltes Signal, um an fast vergessen geglaubte, sozialere Rollenmuster zu erinnern und sie vielleicht sogar wieder zu etablieren. Folgerichtig heißt das aktuelle Kapitel auch: “Ein neuer Anfang” und skizziert den vorsichtigen Versuch so etwas wie Normalität zu kreieren.
Die Untoten lassen sich natürlich nicht einfach ausblenden, aber es wird das Möglichste getan, sie in Zaum zu halten. Patrouillen sollen die Wegstrecken zwischen Siedlungen sicher gestalten, es gibt gegenseitige Besuche und Handelsbeziehungen werden aufgebaut. Man erlaubt sich sogar den Luxus von Alltagsgedanken und –sorgen. Rituale und Feste werden geplant und durchgeführt, die Jugendlichen können erstmals ein wenig ihre Pubertät ausleben, selbst Überlegungen zur Berufswahl kommen auf. Von Liebesdingen ganz zu schweigen. Es sieht zwar nicht wahrhaft rosig aus, aber für einen Hauch Optimismus ist Platz.
Doch was ist mit der Gruppe Neuankömmlingen, die misstrauisch durch die Siedlung streifen? Sie legen ein Verhalten an den Tag (und die Nacht), das an Ricks aggressive Aufmerksamkeit erinnert, die er früher selbst Orten entgegenbrachte, die ihm zu gut um wahr zu sein, schienen. Es braut sich im Innern etwas zusammen. Eine weit größere Bedrohung macht sich aber außen bemerkbar; ein Teil der Walker kann möglicherweise miteinander kommunizieren. Und dies beileibe nicht nur nonverbal.
Außerdem darf nicht vergessen werden: Da sitzt jemand hinter Gittern, der unzweifelhaft am Leben ist und brennt. Noch auf kleiner Flamme, doch unter geänderten Umständen kann leicht wieder ein hell loderndes Buschfeuer daraus werden.
“Ein neuer Anfang” mag möglich sein, doch ob es ein guter wird, bleibt mehr als zweifelhaft.
“The Walking Dead 22” ist wieder ein Buch des Übergangs. Eine Bedrohung ist (fast) ausgeschaltet, es gibt kurze Phasen der Ruhe, sogar ein Hauch Zufriedenheit ist dann und wann spürbar. Letztlich aber kaum etwas, worauf man bauen könnte.
“Ein neuer Anfang” bestätigt einmal, was eifrige Leser (und Zuschauer) längst wissen: Die größte Gefahr geht bei “The Walking Dead” nicht von den Untoten aus sondern von den Lebenden. Die Walker sind ein halbwegs einschätzbares Gefahrenpotenzial, es mag unliebsame Überraschungen am Wegesrand geben, doch im Großen und Ganzen sind die umherziehenden Herden und vereinzelten Streuner berechenbar. Ganz im Gegensatz zum atmenden Teil der Bevölkerung.
So groß die Sehnsucht nach einem funktionierenden Gesellschaftsmodell angesichts der Zombie-Apokalypse auch sein mag, selbst der kleine Wunschtraum eines halbwegs geregelten Alltags bleibt eine Utopie, so lange widerstreitende Kräfte ganz andere Pläne haben. Es bleibt spannend im Walking Dead-Universum, vor allem weil sämtliche Entwicklungsmöglichkeiten offen sind. Vom Neuaufbau bis zur totalen Zerstörung. Robert Kirkman ist ohne weiteres die Umsetzung jeder dieser Möglichkeiten zuzutrauen, ebenso wie die Non-Existenz eines Masterplans. Stattdessen größtmögliche Offenheit, mehrere Fragezeichen und Entscheidungsfreiheit der Lesenden.
Ähnlich wie “Game Of Thrones” ist “The Walkiong Dead” – was sowohl Graphic Novel wie TV-Serie betrifft – ein demokratischer, fast sozialistischer Entwurf. Was das Sterben angeht. Hier wie dort ist niemand sicher. Lässt man ein paar Teile/Folgen aus, kann man nie sicher sein, auf welche Haupt- oder tragende Nebenfigur man verzichten muss. Das ist mutig von den Autoren, funktioniert aber ausgezeichnet. Wenn auch mit Magengrimmen. So versursachte es tatsächlich einen kleinen viralen Aufruhr, als Norman Reedus, der Darsteller des Daryl Dixon (der in der gezeichneten Version gar nicht vorkommt), über sein mögliches Ende spekulierte. Eigentlich sollte man meinen, in der TV-Serie gäbe es zwei Figuren, die unantastbar scheinen: Daryl und Rick Grimes. Darauf verlassen darf man sich allerdings nicht.
Es ist Robert Kirkman, den Zeichnern und Filmschaffenden hoch anzurechnen, dass auch nach zweiundzwanzig Bänden, beziehungsweise fünf TV-Staffeln, das Handlungseis auf dem sich sämtliche Protagonisten bewegen, verdammt dünn ist und alles möglich scheint. Selbst ein Fortbestand ohne etablierte Hauptfiguren.
So bleibt zu konstatieren, “Ein neuer Anfang” bleibt spannend, auch wenn er geprägt ist von gelegentlicher Elegie und eher unterschwellig brodelnden Konflikten. Manches Motiv mag sich ansatzweise wiederholen, aber am Ende zählt, wissen zu wollen, wie es zukünftig weitergeht.
Zeichnerisch ist das von gewohnt ruppiger Schwarz-Weiß-Qualität. Meister des Filigranen werden die Zeichner und Grafiker der Reihe nicht mehr. Passt aber zur rustikalen Endzeitatmosphäre. Da es viel zu erzählen gibt, hält sich die Anzahl der Splash-Panels oder gar zweiseitigen Spreads in Grenzen, die Tendenz geht eher zu kleinformatigen Zeichnungen. Deshalb ist “Ein neuer Anfang” ein etwas länger andauerndes Lesevergnügen.
Die übersetzten Texte gehen im Großen und Ganzen in Ordnung, bei ein paar Fahrlässigkeiten drücken wir die Augen zu (“Der Tot von diesem […] hat sie arg mitgenommen” und so). Ein sprachliches Äquivalent zu dem Goethe sein “Faust” wird “The Walking Dead” wohl nicht mehr. Aber dafür hatte der olle Geheimrat auch keine Zombies. Oder etwa doch?
Cover & Zeichnungen © Cross Cult
- Autoren: Robert Kirkman
Charlie Adlard
Stefano Gaudiano
Cliff Rathburn
- Titel: The Walking Dead: Ein neuer Anfang
- Band: 22
Verlag: Cross Cult - Erschienen: 2015
- Einband: Hardcover
- Seiten: 159
- ISBN: 978-3-864-25416-1
- Sonstige Informationen:
Information und Erwerbsmöglichkeit beim Verlag
Wertung: 10/15 dpt