Poesie gegenüberzustehen heißt oft, den eigenen Grenzen gegenüberzustehen. Den Grenzen des Verstehens, des Überblickens; insbesondere letzteres fällt beim Poesiefestival immer wieder schwer. Aber nicht nur, weil die vorgetragene Lyrik vielschichtig und gut ausgewählt ist. Es ist die schiere Masse an Veranstaltungen, die überfordert und dem Berichterstatter das Geständnis abringt, kein umfassendes Bild abgeben zu können. Bei 140 Künstler*innen aus 32 Ländern ist das jedoch nichts, wofür man sich schämen müsste.
Aber die aufgeschnappten Details ergeben ein Bild, das durchaus Interesse wecken sollte. Und zwar weit über Berlin hinaus. Das liegt nicht daran, dass für jeden etwas bei den Veranstaltungen dabei wäre. Es ist schon ein wenig Pioniercharakter notwendig, um am Poesiefestival Spaß haben zu können. Es kann durchaus sein, dass man sechs der besten niederländischen Lyriker*innen an einem Abend gesammelt trifft. Doch um alle zu kennen, muss man schon sehr gut informiert sein. Nichtsdestotrotz: Der Versschmuggel zwischen niederländischen und deutschen Dichter*innen war großartig.
Zwölf Lyriker*innen, zwei Diplomat*innen und eine Moderatorin auf die Bühne zu bekommen, ohne gestelzt zu wirken oder die Zeit zu überschreiten, war dabei schon an und für sich ein Erlebnis. Das intelligente Projekt, bei dem je ein*e Lyriker*in aus einer Nation mithilfe von Übersetzer*innen sich gegenseitig übertragen – und die Übertragung auf der Bühne teils reinszenieren, teils schlicht vortragen – hat dabei nicht nur der Form nach begeistert, sondern war auch überraschend kurzweilig. Das Spektrum reichte dabei von phlegmatisch-obskurer Naturlyrik über das die Worte überschattende Spiel der als Grande Dame vorgestellten Anneke Brassinga und ihres Deutschen Antagonisten Oswald Egger bis hin zur politischen und bissigen Poesie Daniele Seels und Els Moors. Ganz zu schweigen von der fast erzählenden Lyrik Maud Vanhauwaerts, deren Beschreibung einer Beerdigung kaum kritischer und witziger hätte sein können.
Das Schöne am Poesiefestival ist aber auch, dass man für die Pionierarbeit belohnt wird: Schaut man einmal durch den Türspion einer Veranstaltung, kann man sich sicher sein, dass man bei der nächsten Lesung einige davon wiederfindet. Und wenn nicht bei der nächsten Lesung, dann beim Lyrikmarkt, mit dem das Festival traditionell beendet wird. Er spielt insofern eine besondere Rolle, als dass er das Verhältnis von Poesie zur restlichen Literatur auf eine ganz besondere Art und Weise charakterisiert: Wäre Literatur Musik, ist Lyrik der Techno. Hübsche Einzeleditionen, Fundgruben für Sammler und Liebhaber, aber auch einfaches Design zu günstigen Preisen. Die großen Verlage sind kaum beteiligt. Stattdessen sind es oft die Verleger*innen selbst, die hinter den Büchertischen stehen. Oft sind diese mit den Autor*innen identisch; Daniela Seel und der Kookbook-Verlag können dafür Pate stehen.
Es ist also kein Zufall, dass das Poesiefestival immer beliebter wird. Trotz dem etwas billig wirkenden Werbeplakat und dem zu geleckten Werbevideo kreieren die Organisator*innen mit dem Festival eine (Über-)Lebensform im ökonomischen und literarischen Sinne. Individuelle Bücher für individuelle Menschen. Es lohnt sich also nicht nur für Liebhaber vorbei zu kommen – von dieser Praxis können eigentlich alle lernen, die leidenschaftliche und/oder professionell mit Wörtern umgehen. Lernen heißt hier aber immer auch: Genießen. Und seien es die eigenen Grenzen.