Dietrich Rauschtenberger – Trombeck: Wie wir den Freejazz erfunden haben (Buch)

Dietrich-Rauschtenberger-TrombeckDietrich Rauschtenberger weiß, wovon er schreibt. Spielte der Trommler doch ab 1961 mit der deutschen (Free)-Jazz-Legende Peter Brötzmann und Peter Kowald in einem gemeinsamen Trio. Ob dabei der Freejazz seine Geburtsstunde erlebte, weiß vielleicht Jazz-Kritiker-Koryphäe Jens Nagel, dessen Gegenwart und Beachtung in Rauschtenbergers Roman gesucht und gleichzeitig verachtet wird. (Auto)-biographische Spurensuche darf in “Trombeck: Wie wir den Freejazz erfunden haben” gern betrieben werden; sollte aber nicht alleiniger Lesegrund bleiben.

Denn der 460-seitige Roman, der auf dem gleichnamigen Hörspiel basiert, ist viel mehr als eine verkappte Musiker-Biographie. Das Buch erzählt von der Aufbruchstimmung in der jungen Bundesrepublik, vom Versuch, verknöcherte Strukturen aufzubrechen  und sich gegen die immer noch übermächtige Generation gestrenger und oftmals verblendeter Väter aufzulehnen; vom alltäglichen K(r)ampf als Musiker zu überleben. Er folgt seinen Protagonisten über ein gutes Vierteljahrhundert, handelt von Freundschaft, ihrem Zerbrechen, ihrem Bestand und dem Wiederfinden, von einmaligen Augenblicken und natürlich von der Liebe. Nicht immer mit Happy End.  

Rauschtenbergers Sprache ist salopp, kaum artifiziell, schreckt auch vor ein paar platten Pointen nicht zurück; ist dabei aber effektiv, in seinen Beschreibungen von Musik und ihrer Wirkung gelingt es dem Autor, seine Worte zu Architektur tanzen zu lassen*. Insbesondere zu Beginn, als der berühmt-berüchtigte Freejazzer Notenbast gemeinsam mit Hauptfigur Trombeck und einigen anderen Musikern eine Vernissage musikalisch überrollt sowie beim Höhepunkt des Buchs, als die abendliche Tanzveranstaltung eines Wuppertaler Schützenvereins zur orgiastischen Freejazz-Orgie explodiert, inklusive begleitenden Gewitters. Kunst und Leben treffen sich zu einer seltenen Sternstunde des gemeinsamen Händchenhaltens.

Doch Rauschtenberger lässt auch die Schattenseiten des Künstlerlebens nicht aus, parliert von Animositäten, Ressentiments und Eifersüchteleien, die unter Jazz-Musikern genauso verbreitet sind wie unter chartsgeilen Popsternchen.  Der Geldfluss ist allerdings wesentlich beschränkter. Für Trombeck heißt das, als Sessionmusiker zu arbeiten, seine “Spaceless”-Kompagnons haben entweder Geld von Haus aus oder arbeiten in bürgerlichen Berufen. Mit einer Mischung aus Unbehagen und leichtem Neid wird der virtuose Dölfi Kampschulte gesehen, der zwischen gutbürgerlicher Bankanstellung und gepflegtem Jazzclub pendelt, und von Trombeck abschätzig als Karrierist beim “stilistischen Bundesamt” bezeichnet wird: »…jetzt isser Skalenschutz-Beauftragter bei der geheimen Jazzpolizei, Ressort Sicherheits-Jazz, und hat die Tonleitern c bis fis unter sich«

Sicherheit mag eine kleine Sehnsucht sein, doch die Sucht nach (tonaler) Freiheit wiegt viel schwerer. Über die fünfundzwanzigjährige Handlungsdauer diskutieren und leben Trombeck und seine Weggefährten dies aus. Frust schwingt mit, wenn Mitte der 80er die gleichen Probleme herrschen wie Anfang der 60er. Wo treten wir als nächstes auf, was spielen wir, wie wird die Resonanz sein und wird am Ende wenigstens ein bisschen Lohn und Brot übrig bleiben?

Die Geschichten seines aufreibenden und wechselhaften Musiker-Daseins schildert Trombeck ausführlich seiner großen Jugendliebe, der er zufällig nach einem Vierteljahrhundert wiederbegegnet. Rauschtenberg erzählt von Hanne, ihren Eltern und der komplizierten Beziehung zu Trombeck, die ganz früh mit einem radikalen mütterlichen Schlussstrich endete,  anrührend, charmant und nie überkandidelt. Er vermag es, die emotionale Spannung zu halten und erlaubt sich einen Bruch im Ungefähren, der Trombecks gesamtes Leben passend illustriert.

dr50erjahre“Trombeck” ist ebenfalls ein Coming Of Age-Roman, der von Auflehnung und Entwicklung erzählt, dabei spannenderweise nicht die naheliegende Rock’n’Roll-Rebell-Variante wählt, sondern auf ein unpopuläreres Nebengleis namens Jazz ausweicht. Dabei ist das Buch keineswegs nur für Jazz-Kenner geeignet. Die geschilderten Alltagssituationen und Diskussionen über Kunst und Künstler weisen über eine reine Gattungsgeschichte weit hinaus. Trotzdem sollte man der Verlockung nachgehen, sich mit Jazz und explizit der “Musik für die Katzenbeerdigung” wie Freejazz ironisch von Trombecks Kumpel Erwin “Boxer” Nelken im Anhang genannt wird, zu beschäftigen. Denn die Idee der strukturellen Zerstörung und Überwindung von Formen ist eine spannende, ihre Ausdeutungen  sind vielfältig, besonders die psychologische Komponente wird breit aufgearbeitet, und auch die Unmöglichkeit von absoluter musikalischer Freiheit wird nicht außen vor gelassen (was hieße KEINEN Abend jemals zwei gleiche Töne aufeinanderfolgend zu spielen).

Was in dieser Wuppertaler Herangehensweise allerdings kaum eine Rolle spielt, ist der meditative, spirituelle Faktor der freien Musik,  der sich in der Musik John Coltranes, Ornette Colemans, Pharoah Sanders und ganz besonders Sun Ras finden lässt. Das ekstatische Auflösen von Strukturen, um befreit in der gespielten Musik aufzugehen, quasi der Versuch auf eine Grenzen sprengende Reise zur Seele des Menschen und auf die Suche nach Gott – welchem auch immer – zu gehen.

Notenbast und Trombeck wählen einen etwas anderen Weg, akademischer und psychoanalytischer. Doch am Ende steht ein ähnliches Ergebnis: Die Freiheit von erdrückenden Fesseln, der Aufbruch in, zumindest kurzfristig, neue Dimensionen. Oder wie Notenbast es ein wenig pathetisch  ausdrückt: »Denn manchmal erzählt unsere Musik Geschichten, für die es keine Worte gibt. Wir haben den Freejazz erfunden. Mit viel Getöse. Aber wir haben nur das getan, was jeder Musiker tun sollte, die Musik neu erfinden. Für sich selbst. Einmal im Leben.«

Ob der Freejazz nun in Wuppertal oder New York erfunden wurde, muss der Leser nach der Lektüre weiterhin selbst entscheiden (ich tendiere Richtung Big Apple). Andererseits, wer sagt denn, dass es nur eine Geburtsstätte für Aufbrüche gibt? So oder so ist Dietrich Rauschtenbergers hochmusikalischer Roman unterhaltsam, witzig, selbstverliebt, melancholisch, klug, albern und lehrreich für jeden Musikinteressierten.

Ganz egal, ob man Freejazz schätzt oder nicht: Nach dem Lesen – oder Hören, falls man das empfehlenswerte Hörbuch mit dem exzellenten Rolf Becker als Sprecher sein Eigen nennt – bekommt man jedenfalls ungeheure Lust sich der “CHAOSMUSIK” zu widmen, sie zumindest zu testen.  

gorilla-moon-600Den einfachsten Weg dazu bietet die limitierte Sonderedition von “Trombeck: Wie wir den Freejazz erfunden haben” im feinen Schuber, die neben dem Roman noch eine rund siebzigminütige CD des Gorilla Moon-Trios namens “Zehn extemporierte Stücke” beinhaltet. Eine anregende und durchaus anstrengende (warum auch nicht – Unterforderung gibt es eh viel zu viel im Medienbereich), klangvolle Interpretationen von Psychomusik. Oder war es “Selbstheilende Musik”… “Provisorische Musik”… “Sozialisationsmusik”… “Intuitive Musik” oder gar “Magische Musik” plus zahlreiche andere Begriffe, die “Boxer Nelkens Liste der anderen Namen für improvisierte Musik”  aufführt.

Während der Roman überall im Buchhandel und online erhältlich ist, kann die limitierte Edition, die neben der erwähnten, nummerierten CD noch eine handsignierte Grafik des Autors enthält, nur über den Verlag käuflich erworben werden.

*Geht auf das Zitat: “Talking about music is like dancing about architecture” zurück, das neben vielen anderen gerne Steve Martin und Frank Zappa zugeschrieben wird.

Cover © kuk/Edition Phantasia/Joachim Körber Verlag/ Fotos © Dietrich Rauschtenberger

Wertung: 11/15 dpt

 

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