Richard Lorenz – Amerika-Plakate (Buch)


Richard Lorenz - Amerika-Plakate (Cover © kuk/Edition Phantasia)Offenbar hat der Verfasser dieser Zeilen einige Löcher in seinem Bücherregal, die noch des Stopfens bedürfen. Da wäre “Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte” von Paul Auster, welche an zahlreichen Ecken und Enden dieses Romans – wenn man anderen Lesern dieses Buches Glauben schenken darf – hervorblitzt, und auch zu manch anderem der im Buch erwähnten Veröffentlichungen hat “Amerika-Plakate” mal direkt, mal indirekt einen Bezug. Dies sowie die Art und Weise, wie die Geschichten ineinander verschachtelt sind, verleiht Richard Lorenz’ Debütroman ein nahezu matroschkenhaftes Wesen.

Der Roman beginnt damit, dass ein nicht weiter benannter Erzähler quasi aus dem Off die Geschichte seines Freundes Leibrand erzählt, von den Siebzigern bis in die folgenden Jahrzehnte. Dabei nimmt der Freund den Leser irgendwo in München an die Hand und bringt ihm näher, wer dieser Leibrand eigentlich war. Und wo er sich in all der Zeit bis zu seinem Tod befand.

Leibrands Einführung in “Amerika-Plakate” ist die Grundierung auf der Leinwand, die jungen Jahre sind die Skizze seines späteren Lebensgemäldes, und die vielen Jahre darauf sind die Pinselstriche mit all ihren Farbspielen und Interferenzen. Seine Zeit im Schüleralter besteht größtenteils aus seinem Rückzug, der gleichzeitig eine Flucht ist. Er geht seinen Mitschülern konsequent aus dem Weg – und zu Hause ist sein einziger Zufluchtsort sein Kleiderschrank – vor allem, wenn sich seine Eltern ein Stockwerk weiter unten streiten, was immer wieder darin mündet, dass seine Mutter von seinem trunksüchtigen Vater verprügelt wird.

Die Schranktür ist jedoch nicht nur der Zugang zu einem Möbelstück, sondern auch eine Art Teleporter in eine Welt, die in Leibrands Kopf entsteht – ein Teleporter, der in Leibrands imaginäres Amerika und dort in sein eigenes Brooklyn führt. Er schreibt die Eindrücke dieser geistigen Welt bald in seinen bald dem Ich-Erzähler in die Hand fallenden “Schrankgeschichen” nieder, in Geschichten, die anfangs noch in sich geschlossen erscheinen, jedoch bald ihre Haken und Ösen ineinander schlagen. Er beginnt auch bald, sie mittels seiner Amerika-Plakate zu visualisieren.

Als der Jahrmarkt in die Stadt kommt, trifft der zu diesem Zeitpunkt elfjährige Leibrand auf Suzanne, dieses wunderschöne Mädchen mit den feuerroten Haaren. Als das Mädchen ihn küsst, »fällt er komplett aus der Welt«, und die beiden sehen sich daraufhin nie wieder. Alles, was bleibt, sind die Erinnerungen an Suzanne. Die Erinnerungen an dieses hübsche Mädchen, diese leuchtende Haarpracht, die Geräusche des Jahrmarktes und der Geruch von Zuckerwatte. Erinnerungen, die zu verblassen drohen.

In der gesamten darauf folgenden Zeit gibt er die Suche nach Suzanne, die Suche nach seinem persönlichen Brooklyn, nie auf, wandelnd durch sein persönliches Amerika – nur um den Fall aus der Welt wieder aufzuhalten. Seine Reise führt ihn zu Personen der unterschiedlichsten Art; zu Mathilda, die mit ihm auf die Schule geht und urplötzlich verschwindet; zu Albert Sterner, einem Mann, der Geschichten in Flaschen sprach und den Teufel zu einem Wettrennen herausfordert; zu Brenner, einem herzensguten Stadtstreicher; zu Berender, einem Mann, den als Kind der Blitz getroffen hat und der ihn durch das Brooklyn der Unsterblichen geleitet; zu Harvey in der Psychiatrie; zu ach so vielen…

Immer wieder muss man bei der Lektüre stutzen, in welcher seiner beiden Realitäten sich Leibrand gerade befindet, er, der scheinbar willkürlich, aus heiterem Himmel, fällt. Von Stühlen, Schaukeln und aus Fenstern. Kontinuierlich verschieben sich die Grenzen zwischen Realität und Imagination. Und all diese Menschen aus den zwei Universen, sie nehmen Einfluss auf Leibrand – doch die Briefe, die er schreibt, die Amerika-Plakate, die er malt – die lenken das Leben Suzannes, die… ja was eigentlich? Und in welcher der beiden Welten Leibrands befindet sie sich? Wie wird sie im jeweiligen Jetzt aussehen? Was wird sie gerade tun?

Wenngleich der Grundtenor des Romans aus Melancholie und Traurigkeit besteht und ein Panoptikum der Sehnsüchte und ein nahezu verzweifeltes Entlangwandeln entlang einem mäandernden Pfad mit dem Zielpunkt Liebe ist, so birgt “Amerika-Plakate” eine beklemmend faszinierende Phantasie in sich, ebenso eine bezaubernde Schönheit, die mit Worten kaum definierbar ist. Der ehrlichen, emotional geprägten Kunst wird die Liebe ebenso bekundet wie der Liebe zum Leben, welches so wunderbare Momente bieten kann, aber doch so furchtbar vergänglich ist. Dem Autor entfleuchen dabei Formulierungen und Gedankengänge, die den Leser nicht selten das Atmen vergessen lassen. Innehalten, Luft anhalten, verarbeiten.

Die melancholische Seite wird durch zitierende Querverweise zu äußerst passender Musik (Bob Dylan, Johnny Cash, Bette Midler und Tom Waits als Beispiele) betont, und die Phantastikkomponente durch die kleinen Hinweise auf literarische Werke, die zu den Zeiten der Ereignisse noch gar nicht hätten existieren können. Außer…

Es ist fürwahr nicht einfach, den gar nicht mal so langen Roman – er fasst keine dreihundert Seiten – zu lesen. Er erfordert einiges an Empathie, an Konzentration und an Vorstellungskraft, um ihn in seiner Gänze zu erfassen und verstehen. Obwohl man nach der Lektüre durchaus daran zweifelt, sie auch wirklich vollends verstanden zu haben. Oftmals ist es so, dass man plötzlich Unmengen an Fadenenden vor sich hat, und erst mit fortschreitender Lesezeit entwirrt sich das Geflecht und wird zu einem geordneten Netz, das den Leser umhüllt. Nur: Hat man selbst nun die Knoten korrekt verknotet? Hat man in der Matroschka auch sämtliche Figuren verbaut oder hat irgendwo noch ein Teil den Leibrand gemacht, sprich, ist heruntergefallen?

“Amerika-Plakate” ist völlig anti-mainstream, es ist eine Herausforderung , der es sich zu stellen gilt. Komplex, aber nicht um der Komplexität willen. Keine Kabinettstückchen-Show, sondern ein Kaleidoskop der Hingabe.

Sucht man nach einem Haar in der Suppe, so findet man derer zwei – eines davon ist Geschmackssache, denn Lorenz neigt oftmals zu derart ausufernder bildhafter Sprache, wie man sie, wenn auch in anderer Form, von J. R. R. Tolkien kennt – Stichwort Grashalme und ihre Namen – nur dass es bei “Amerika-Plakate” Risse in Dielen sowie andere optische Feinheiten sind. Das zweite Haar ist etwas borstiger und zuweilen irritierend, denn hier und da hat das Lektorat ein wenig geschlafen, sodass sich neben zahlreichen Flüchtigkeitsfehlern und teilweise seltsamer Kommasetzung sogar ein dass/das-Fehler eingeschlichen hat.

Doch so oder so darf man “Amerika-Plakate” als einen außergewöhnlichen, mutigen Roman titulieren, der ähnlich gewöhnungsbedürftig ist wie ein trockener, sehr schwerer Wein. Einer, der erst abschreckend anmutet und bei dem man beinahe geneigt ist, keinen weiteren Schluck zu kosten. Und dann doch froh ist, dass man ein bis zwei Gläschen davon getrunken hat, da er nach und nach seinen ureigenen Geschmack entfaltet, gepaart mit einer schleichenden Süffigkeit.

Cover © kuk/Edition Phantasia/Joachim Körber Verlag

Weitere Rezensionen findet ihr unter anderem bei Literaturen und bei dandelion | abseitige literatur.

Wertung: 13/15 dpt


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