Mode, Textilien und Baumwolle aus Fernost – wer hier nicht nur an Billigstklamotten aus dem Discounter, sondern auch an Nobelmarken und schlimmste humanitäre Zustände denkt, ist hier genau richtig! Und wer bei diesem Thema noch nicht an die Anfänge moderner Fabrikationsmethoden, die Erfindung der Figur des Fabrikanten und an weltumspannende Wirtschaftstheorien denkt, dem sei die Abhandlung “King Cotton” von Sven Beckert wärmstens als Zug-, Bett- oder Schreibtischlektüre empfohlen!
Der Rezensent gilt nicht wirklich als Modejunkie, das Wissen rund um die Textilherstellung ging eher gen Allgemeinwissen, und auch der Wissenshorizont bezüglich der Geschichte der Baumwollindustrie musste von Grund auf erlesen werden. Es war eher der schieren Neugierde und der masochistischen Lust, sich etwas völlig Unbekanntem zu nähern, zu verdanken, die den Verfasser dieser Zeilen zu diesem Buch greifen ließen … und irgendwie klang bei dem Titel “King Cotton” der Titel “King Nothing” von Metallica mit – passenderweise aus der eher stylo- denn metallo-Phase der Band.
Die Monographie geht auf den ersten Seiten auch gleich ins Volle, indem der Autor Sven Beckert behauptet, dieses Buch sei “das erste, das die Geschichte der Baumwolle auf die einzige Art erzählt, wie sie wirklich verstanden werden kann – als ein umfassendes Ganzes”. So viel Hochmut mag viele abschrecken, wobei dem Autor sicherlich zu wünschen ist, dass “Viele” das Vorgeplänkel namens Einleitung überspringen, um gleich zu Potte zu kommen. Als doktorierender Rezensent macht aber soviel Chuzpe doch stutzig.
Nun gut, hier haben wir also ein Buch der selbsternannten Superlative vor uns, das zudem auch noch das Große Ganze erklärt. Manch einer mag sich nun vogelzeigend von dem Buch und dieser Rezension abwenden, doch zumindest “King Cotton” würde man damit Unrecht tun. Denn Beckert, seines Zeichens ein aus Frankfurt stammender Harvard-Professor für Amerikanische Geschichte, gelingt es dann tatsächlich, ein wirklich spannendes und umfassendes Buch über die Geschichte der Baumwollherstellung zu verfassen und damit die Mechanismen einer globalisierten Wirtschaftspraxis aufzuzeigen. Und irgendwie liest sich diese mit zahlreichen Fußnoten versehene und profund recherchierte Analyse auch wie ein Abenteuerroman, in dem starke Protagonisten wie der Fabrikant oder der Wirtschaftspolitiker, die beide erst ihre Rollen definieren, finden und ausgestalten müssen, auftauchen. Aber auch hilflose Massen wie Sklaven, deren Rolle bis heute virulent ist, auch wenn manch einer aus political Correctness den Begriff ‘Sklaven’ zu meiden sucht, und Maschinen, die die Nacht als neuen Tag definieren, prägen das Bild, das sich dem Leser mit jedem neuen Kapitel erschließt. All diese Umwälzungen, die Beckert in seine Geschichte der Baumwolle einwebt, lesen sich unterhaltsam und scheinen plausibel. Die Argumentationsketten, die er vorlegt, die Quellen, die er anführt und die Schlussfolgerungen, die er daraus für die Charakteristika globalisierter Wirtschaftssysteme zieht, sind nachvollziehbar und schlüssig. Besonders virulent zeigt sich die enge Verflechtung zwischen diesem Wirtschaftszweig und mal mehr, mal weniger offensichtlichen staatlichen Subventionen oder sonstigen Zuwendungen, wie Wirtschaftsembargos, Wirtschaftskriege oder protektionistische Schikanen. Ob sich diese Erkenntnisse auf andere Wirtschaftszweige übertragen lassen, ist sicherlich fraglich, doch wenn dies in einer Branche der Fall ist, darf natürlich gerne über andere Branchen und deren Fühler in die Politik spekuliert werden. Von den vielbeschworenen Errungenschaften der Aufklärung und des Rationalismus war und ist bis heute nicht wirklich viel erkennbar. Viele Bereiche der Wirtschaft werden und wurden kriegsökonomisch genutzt, um nationalstaatliche Optionen und Begehrlichkeiten zu befriedigen.
Ebenfalls positiv hervorzuheben ist die Perspektive, die der Autor für seine Geschichte der Baumwollindustrie wählt. Herrscht in vielen Wirtschaftserzählungen, die meinen, die Globalisierung erklären zu wollen, entweder eine stark europäische oder amerikanische vor, beleuchtet Beckert neben englischen und resteuropäischen Auswirkungen natürlich auch die Konsequenzen für die indischen, asiatischen und afrikanischen Märkte und nationalstaatliche-Wirtschaftssysteme.
Sven Beckerts Monographie über die Baumwolle ist somit wirklich eine Leseempfehlung für all jene wert, denen wirtschaftliche Themen nicht zu dirty sind – unter vielen Geisteswissenschaftlern hält sich ja leider immer noch das Vorurteil, man solle doch nicht mit den Schmuddelkindern von den Wirtschaftsunis spielen. Zudem bekommt der Leser auch noch elegant eingeflochtene Erzählbögen, die den Titel “King Cotton” rechtfertigen – hier gibt es wirklich eine Aufstiegs- und Krönungsgeschichte zu rezipieren. Manche Formulierung mag etwas unelegant sein, manche Metapher all zu klischiert klingen und hier und da hört man sie ganz gewaltig trapsen: Die amerikanische Schule des “storytellings” – doch das soll der Rezeption dieses Buches keinen nachhaltigen Abbruch bescheren. Lesenswert ist “King Cotton” allemal – vom Wissensgewinn und dem Gefühl, sich auf etwas völlig Neues eingelassen zu haben, ganz zu schweigen!
- Autor: Sven Beckert
- Titel: King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus
- Originaltitel: Empire of Cotton: A Global History
- Übersetzer: Annabel Zettel, Martin Richter
- Verlag: C. H. Beck
- Erschienen: 2014
- Einband: Gebunden
- Seiten: 525
- ISBN: 978-3-406-65921-8
- Sonstige Informationen:
Enthält 38 Abbildungen und 7 Karten
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Wertung: 12/15 dpt
Das Buch klingt ja verdammt faszinierend! Auch, wenn mich beim Lesen spürbare Arroganz der Autoren (bwz. in Fiktion natürlich der Erzähler) oftmals abschreckt, scheint es sich hier ja wirklich zu lohnen, sich durch eine unangenehme Stimme zu kämpfen. Vor allem Sklaverei st ein Thema, mit dem ich mich gerne befasse (was nun aufgeschrieben etwas morbide klingt), doch auch mit Kapitalismus-Geschichte und -kritik wollte ich mich schon länger mehr auseinandersetzen.
Danke für diese Rezension!