Bevor Sam Millar als Autor, unter anderem mit den Büchern um den Privatermittler Karl Kane, reüssierte, war er so berüchtigt wie berühmt. Und das gleich in zweierlei Hinsicht.
Zum einen als ein “Blanket-Man”, einer jener Männer, die während des Nordirland-Konflikts in der Long Kesh-Haftanstalt einsaßen und sich nicht als Strafgefangene sondern als politische Häftlinge sahen. Sie weigerten sich, Gefängniskluft zu tragen (nahmen stattdessen ihre Bettlaken) und für einen Unrechtsstaat zu arbeiten. Und wurden Opfer eines unmenschlichen Justizapparates, der körperliche und seelische Folter und alltägliche Misshandlungen gezielt einsetzte, um den Willen und Widerstand der Aufrührer zu brechen. Doch der harte Kern der Blanket-Men, zu denen Millar gehörte, verharrte bis zur Haftentlassung – oder dem Tod – im Protest.
Nach dieser Zeit verschlug es Sam Millar unter falschem Namen nach Amerika, wo er als Straßenhändler, Croupier (in illegalen New Yorker Casinos) und Comicladen-Besitzer lebte und arbeitete. Bis er zum zweiten Mal in den Focus des öffentlichen Interesses geriet: Als mutmaßlicher Drahtzieher hinter dem “großen Dings bei Brink’s”.
Fünfzehn Jahre nach dem William Friedkin-Film mit Peter Falk und Peter Boyd baldowerte Millar, angesichts der Sicherheitslücken beim Werttransportunternehmen Brink’s, einen Plan aus, die Gesellschaft um ein paar Millionen Dollar zu erleichtern. Die Durchführung des Raubes klappte so spektakulär wie reibungslos. Die Probleme begannen danach.
Eine Reifenspur, auffälliges Verhalten und Plaudertaschen führten eine Armada von FBI-Agenten zu André Singleton aka Sam Millar. Erneute Verhaftung, doch trotz erdrückender Beweise sprang letztlich nur die Verurteilung wegen Besitzes gestohlenen Geldes heraus. Fünf Jahre Haft statt fünfzig, endend mit der Auslieferung nach Nordirland. Bis 1997 dauerte dort sein Aufenthalt im Gefängnis, danach begann er mit dem Schreiben. Erstes Ergebnis, die 2003 erschienene Autobiographie “On The Brinks”, die zu einem viel gelobten Bestseller wurde. 2014 überarbeitete und erweiterte Sam Millar das Buch, das jetzt unter dem Titel “True Crime”, trefflich übersetzt vom verlässlichen Joachim Körber, hierzulande vorliegt.
Man sollte sich vom ‘deutschen’ Titel nicht in die Irre führen lassen. Denn mit “True Crime” ist nicht das voyeuristische Aufarbeiten eines besonders spektakulären Verbrechens, wie das mediale Ausweiden diverser mehr oder minder bekannter Serienmörder, gemeint, sondern jene Verbrechen, die Sam Millars Leben nachhaltig beeinflussten. Gut, der Brink’s Raubüberfall war aufsehenerregend, aber Millar schreibt darüber mit verdutztem Understatement, nicht mit dem prahlerischen Gestus eines begnadeten Gentleman-Verbrechers.
Eine Geschichte der Reue und Buße erzählt Millar allerdings nicht. Er bleibt vage und unspektakulär, weint keine Krokodilstränen, glorifiziert sein Leben und seine Leistungen aber nicht. Er schildert so genau und lückenhaft wie jemand, der sich nicht mehr als nötig belasten möchte. Das ist legitim und lenkt den Blick auf etwas anderes als Millars persönliche Schuld und Strafe.
»Der Sträfling gehört gewissermaßen nicht mehr zu den Lebenden. Das Gesetz hat ihm das ganze Maß an Menschlichkeit aberkannt, das es einem Menschen wegnehmen kann.« schrieb Victor Hugo in “Die Elenden”. Genau davon handelt der erste Teil von Sam Millars Autobiographie. Von einem System, das seine Strafgefangenen entmenschlicht – gänzlich unabhängig von der Schwere ihrer Verbrechen, brutalste körperliche und seelische Misshandlungen als Tagesordnungspunkte abhakt. Nicht in einer Diktatur, sondern mitten im demokratischen Europa. Die “zivilisierte” Welt sieht zu und reagiert bestenfalls verhalten. Wenn man den Entwicklungsstand einer Gesellschaft daran misst, wie sie mit ihren (politischen) Gefangenen umgeht, dann steckt Nord-Irland zu Beginn der 80er zwischen finsterem Mittelalter und den Folterkellern der Inquisition fest. Der schmutzige Nährboden auf dem auch Guantanamo entstand.
Millar schildert das eindringlich, präzise und notwendigerweise voller erschreckender, grausamer Details, schlachtet den Blut- und Ekelfaktor aber auf keiner Seite aus. Auch wenn “True Crime” wenig über den nordirischen Konflikt verrät (dafür braucht es Vorkenntnisse oder Hintergrundrecherche), erzählt das Buch doch viel von der Gewaltspirale, die immer stärker angezogen wird und alles zerquetscht, was in ihre Nähe gerät.
Der Ortswechsel in die USA sieht für MIllar zunächst wie ein Verlassen der Gefahrenzone aus. Doch ist es nur eine Verlagerung. Die zweite Hälfte von “True Crime” hätte auch als Fiktion einen bemerkenswerten, vielleicht etwas unglaubwürdigen, Kriminalroman abgeben können. Wie das halt oft ist mit der Realität: Erstmal glaubt’s einem keiner.
Die Story eines jungen Mannes, der am Rande der Illegalität herum laviert, dann die Chance bekommt als achtbarer Familienvater einen bürgerliche Lebensweg einzuschlagen, um einer millionenschweren kriminellen Verlockung zu erliegen. Die ihn postwendend in die absurden Mühlen der amerikanischen Justiz geraten lässt. Nach überraschend milder Haftstrafe darf er schließlich und endgültig(?) als geläuterter Mann in die Zukunft blicken. Was zu nicht unbedeutenden Teilen seiner Vergangenheit geschuldet ist.
Auch dies beschreibt Millar packend, hakt manche Station allzu knapp ab und lässt wieder kaum Raum für Reue. Außer Bedauern für den armen Charlie McCormack, den unbescholtenen Lehrer, der in die Mühlen der Justiz gerät, weil seine Wohnung ohne eigenes Zutun zum Versteck der geraubten Brink’s-Beute wird. Millar pendelt zwischen genauen Alltagsbeobachtungen, Schelmenstück und Justiz-Thriller mit halbem Happy-End für die Gauner.
Der eigentliche Raubzug klappt mit erstaunlicher Leichtigkeit, danach bringen aber viele kleine Fehler und Nachlässigkeiten, angefangen bei der Reifenspur nahe des Tatorts, Millar und seine Komplizen in Bedrängnis. Hier findet sich auch viel vom sarkastischen, beinahe surrealen Humor der späteren, fiktionalen Romane. Wie der Umstand, dass Millar, ohne es zu bemerken, von Heerscharen von FBI-Agenten observiert wird. So läuft er dem gleichen auffälligen Bundesbeamten mehrfach über den Weg, wird stutzig, doch zieht keine Schlüsse daraus. Später kommt heraus, dass die erste nahende Verhaftung abgeblasen wurde, weil alle FBI-Angehörigen auf die WTC-Bomber (1993 quasi der Vorbote von Nine-Eleven ) angesetzt wurden.
Zu guter Letzt gelang es der Staatsanwaltschaft trotz akribischer und weitreichender Ermittlungen nicht, Sam Millar den Raub zweifelsfrei nachzuweisen. Obwohl die drastische, großdimensionierte Strafverfolgung kaum stört, demokratische Regeln zu verletzen, wenn Attacken auf das Inner Sanctum des Kapitalismus vergolten werden sollen. Nicht Gerechtigkeit sondern Rache wird zum Antrieb.
“True Crime” hat seine Schwächen, bei einem Leben wie Sam Millar es führt(e), kann es bei rund 400 Seiten nur zu Auslassungen kommen, aber es bleibt genügend Lesestoff – auch zur weiteren Beschäftigung mit den Sujets anregend – übrig, um eine aufschlussreiche, spannende und zum Teil erschütternde Lektüre zu ergeben.
Cover © ATRIUM
- Autor: Sam Millar
- Titel: True Crime
- Originaltitel: On the Brinks
- Übersetzer: Joachim Körber
- Verlag: Atrium
- Erschienen: 01/2015
- Einband: Hardcover
- Seiten: 412
- ISBN: 978-3-85535-513-6
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Wertung: 12/15 dpt
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