Nachdem die bewegende mehrgleisige Story “Shotgun Lovesongs” bereits durch ihre Wärme, durch ihre Ehrlichkeit und ihr uramerikanisch-provinzielles Flair zu bezaubern wusste, wurde der Appetit nach mehr Geschriebenem aus der Feder Butlers groß. Die neueste Mahlzeit, die der in Allentown, Pennsylvania geborene Autor seinem Leser auftischt, wird allerdings nicht als großes Ganzes serviert, sondern in zehn Häppchen – in zehn Kurzgeschichten.
“Die Kettensägen-Soiree” eröffnet den Sammelband mit einer Geschichte, in welcher der Ich-Erzähler mit seiner Liebsten in Richtung einer verlassenen Kirche aufbricht ist, wo er sich mit seinem alten Freund Bear und dessen Frau sowie zahlreichen anderen Bekannten trifft, um gemeinsam ihr alljährliches, titelgebendes Fest, mehr ein Ritual, zu feiern. Es wird reichlich Alkohol getrunken, es werden Drogen genommen, und am Ende wird, nachdem Tierblut den Schnee ziert, reichlich totes Tier über offenem Feuer gegrillt und verputzt. Doch inmitten all dieser Feierei geraten die beiden Paare an einen Punkt, der alles verändern wird. Und der Protagonist selbst handelt, wie er es selbst nie erwartet hätte.
Ruhig wird es in “Regenwasser”, wo ein alter Mann und ein Junge in einer ländlichen Hütte wohnen und in den Tag hineinleben. Beide vermissen sie dieselbe Frau – des einen Mutter, des anderen Tochter. Beide arrangieren sie sich, irgendwie. So leise, diese Story. So melancholisch und ausweglos, von einer schaurigen Schönheit.
Stark kontrastierend wurde genau hierhinter “Sven & Lily” gesetzt – die Geschichte zweier Freunde: Sven ist ein hünenhafter, chaotischer, offenbar liebenswerter Mann, während Lily (der neben Sven eben wie ein Liliputaner wirkt) der eher kritische, dennoch gutmütige Freund ist. Doch die dunkle Seite des großen Mannes erdrückt Lily immer mehr. Wie lange steht es der stets das Gute in Sven sehende Kerl noch durch, seinem Freund bei dessen hedonistischen Eskapaden, die er zu Hause verheimlicht, zur Seite zu stehen und ihn immer wieder aus den unmöglichsten Situationen herauszuholen? “Sven & Lily” spielt mit Sym- und Antipathien und mit dem entsprechenden Empfinden des Lesers gegenüber den beiden Protagonisten.
In “Morcheln” treffen sich drei Freunde immer wieder, um im Wald Morcheln zu sammeln und dabei einen draufzumachen – die Morcheln verticken sie ganz gern, um sich damit etwas hinzuzuverdienen. Einer der drei war früher immer der Unscheinbare, der Nerd, und die anderen waren das genaue Gegenteil: Cool. Auf diesem Trip lernen die beiden einiges dazu, wovon sie nicht zu träumen wagten. Oder besser: Sie lernen zu verstehen. Wer hatte nun Glück?
Nachdem Mason und seine Frau Renee in “Reste” das Haus von Masons verstorbener Mutter auflösen und ihre Arbeit beenden, wird sich Mason etwas gewahr – er gerät an einen Punkt X, der für ihn so überraschend wie selbstverständlich kommt. Und der dem Leser mal eben die Luft abschnürt.
Ähnlich wirkt die Titelstory “Unterm Lagerfeuer” – Pieter trifft sich mit zahlreichen Bekannten jährlich im tiefsten Winter zu einem Ritual der besonderen Art… es wird Holz für ein Lagerfeuer gesammelt, und über der dicken Eisschicht wird dieses Feuer aufgebaut. Ein Einstiegsloch wird mit einer Kettensäge ins Eis geschnitten, um dann besonders Mutigen die Gelegenheit zu bieten, unter das Lagerfeuer zu tauchen. Pieters Freundin Kat hielt das immer für Unsinn, doch dieses Jahr entscheidet sie sich, doch mal diesem Ereignis beizuwohnen. Hierbei lässt sie ihre Vergangenheit Revue passieren, erinnert sich an das einander Kennenlernen dieser damals noch völlig kaputten Menschen. Sie fanden einst zusammen, und in ihrer Beziehung ist besonders die sexuelle Komponente etwas, das sie stark miteinander verbindet. Die Nacht, in der sie beide unters Lagerfeuer tauchen gehen, verändert allerdings alles. Und wieder: Ein Leser in Atemnot.
“Rohes Öl” ist aus einem ganz anderen Holz geschnitzt und könnte auch Bestandteil einer Crimeserien-Episode sein. Ein alter, todkranker Mann hält einen Vorstandsvorsitzenden eines mächtigen Ölkonzernes gefangen und bringt seine letzte Lebensenergie auf, um dem Freiheitsberaubten das Leben zur Hölle zu machen. Und als Leser fragt man sich: Mit wem hat man nun mehr Mitleid?
Zusammen mit drei weiteren Geschichten (“Im Westen”: eine demente Polizistin in Fast-Rente rächt eine gepeinigte Frau und lässt Hundekämpfe auffliegen; “Eisenbahnfreaks sind langsam”, ein Sammelsurium der Zwischenmenschlickeiten sowie “Äpfel”, in welchem der Haushaltsgeräteverkäufer Lyle von seinem Arbeitgeber nach Äonen der Beschäftigung urplötzlich geschasst wird und sich nun damit arrangieren muss, eine neue Aufgabe zu finden) erschafft Nickolas Butler ein breitgefächertes Panoptikum der menschlichen Eigenschaften.
Man lernt als Leser verschrobene Menschen, kaputte Menschen, positive Menschen, an irgend einem Ideal oder Ziel geprägte Menschen, Arschlöcher, Täter, Opfer, Optimisten und Pessimisten, Zurückgelassene und Suchende, Glückliche und Unglückliche kennen. Man ist Zuschauer und Zuhörer während der Lektüre – es fühlt sich oftmals so an, als hätte einen eine riesige Hand mit zwei Fingern am hinteren Hemdkragen gepackt und mitten in eine Geschichte hineingesetzt, um ihn auf dieselbe Weise wieder aus den Geschichten herauszuholen – manchmal nach einem logischen Ende, manchmal auch vorher. Denn nicht immer haben die Short Stories einen eindeutigen Anfang oder Schluss.
Sämtliche Geschichten rufen im Leser eine Explosion der Sinneswahrnehmungen hervor. Was auch immer Butler beschreibt – man spürt es, fühlt und riecht es, schmeckt es, man hört die Geräusche, alles wirkt so, als erlebe man es hautnah. Als wäre man voll und ganz dabei und nicht nur in einer durchsichtigen Blase oder vor einer 360°-Glaskuppel. Das knisternde Feuer und Schritte durch den Schnee werden hörbar, der Duft von Regennässe, Kettensägenbenzin oder pheromonschwangerer Luft, wenn sich Liebende und Lusterfüllte erleben und spüren, steigt in die Nase, und der Geschmack von gegrilltem Fleisch oder Blut der Gewalt liegt nahezu auf der Zunge. Oder besser: “Unterm Lagerfeuer” zu lesen ist beinahe eine synästhetische Erfahrung.
Diese Echtheit, in diesem Fall gepaart mit einem “so muss es sich anfühlen, im Mittleren Westen Amerikas Mensch pur zu sein”, bekommen nur wenige Autoren zustande. Nickolas Butler gelingt es famos, die Balance zwischen erzählerischem Wert und beschreibender Komponente zu halten – fast beängstigend bleibt das Zünglein der Waage genau auf null stehen.
Selten war Lesen derart intensiv.
Cover © Klett-Cotta Verlag
- Autor: Nickolas Butler
- Titel: Unterm Lagerfeuer – Stories
- Originaltitel: The Chainsaw-Soiree
- Übersetzer: Dorothee Merkel
- Verlag: Klett-Cotta
- Erschienen: 2014
- Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 320
- ISBN: 978-3-608-98015-8
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 14/15 dpt