»Jesses, was für eine Sauerei!« – bei allen Coen-Brüder-Fans schrillen schon seit jeher die Alarmglocken, wenn es um die Wiederverwertung des edlen Kultstoffs geht, den das Ausnahmeteam in den letzten zwei Jahrzehnten fabriziert hat. Wer will schon eine Fortsetzung von “The Big Lebowski” sehen, den Millionen von Zuschauern zu einem der größten Kultfilme gemacht haben und an dessen heiligem Erbe nichts mehr verändert gehört? Ähnlich sieht es bei “Fargo” aus, auf das eigentlich schon kurz nach seiner Veröffentlichung 1996 eine Serie folgen sollte, um auf dem unverhofften Oscar-Trubel um den Film aufbauen zu können. 2013 machte dann die Nachricht die Runde, dass die eigentlich verworfene Idee wieder aufgenommen wurde, allerdings mit einem neuen Konzept und einem neuen Team. Aber die Skepsis blieb, nicht zuletzt weil die Coen-Brüder zunächst gar nicht involviert waren.
Entwickelt wurde die Serie von Noah Hawley, der zuvor hauptsächlich für die Krimiserie “Bones” verantwortlich zeichnete, augenscheinlich aber ein Faible für das Universum der Coens hat. Anders ist es nicht zu erklären, dass Ethan und Joel letztendlich nach Durchsicht des detailverliebten und vor Hommagen wimmelnden Drehbuch doch als Executive Producer gewonnen werden konnten, was an sich schon einen gewissen Qualitätsstandard garantiert. Für das Projekt spricht außerdem, dass sich die Fernsehlandschaft seit dem letzten Anlauf vor gut zwanzig Jahren massiv verändert hat. Serien sehen mittlerweile aus wie Filme, weil Hollywood-Regisseure wie David Fincher die Vorzüge ausgedehnter Erzählspannen für sich entdeckt haben und das nötige Budget für aufwändige Produktionen generieren konnten. Teilweise haben die Fernsehformate die der Filmbranche sogar überholt, weil manch ein Nachfolger von “Sopranos” und “The Wire” um Längen spannender, innovativer und kultiger ist als die millionenschweren Hollywood-Blockbuster dieser Tage. Ein nahrhafter Boden für “Fargo”, das bei FX untergekommen ist, dem Pay-TV-Sender von Fox, der schon mit Serien wie “Sons Of Arnachy”, “American Horror Story” und “Louie” für Aufsehen sorgte.
Neu ist der Ansatz einer Serienadaption, die auf einem Film basiert, bei weitem nicht. Das “Psycho”-Prequel “Bates Motel” wäre da eines der neueren Beispiele, das unüberblickbare “Star Wars”-Franchise ein etabliertes. Der besondere Reiz an diesen Formaten liegt im Weiterspinnen des der jeweiligen Geschichte zugrunde liegenden Universums, das mitunter nach seinen ganz eigenen Regeln funktioniert. Es werden Charaktere wiederentdeckt, vertraute Orte erkundet und spannende Querverbindungen ausgemacht. Bei “Fargo” treffen nicht alle diese Punkte zu und doch findet Noah Hawley einen ganz eigenen Ansatz, der den Film Jahre nach seinem Erscheinen noch ein Stück reizvoller machen könnte. Aber auch die Serie hat ihren eigenen Charme und einige nicht zu verachtende Vorzüge. Der überlange Pilot zum Beispiel erfüllt seinen Sinn und Zweck voll und ganz.
Zunächst ist Billy Bob Thornton zu sehen, der den zwielichtigen Gangster Lorne Malvo spielt und aufgrund seines nicht mehr ganz zeitgemäßen Haarschnitts an Anton Chigurh aus “No Country For Old Men” erinnert. Dieses Gefühl wird sich im Laufe der Staffel immer wieder einstellen, denn es gibt zahlreiche, mal mehr, mal weniger offensichtliche Querverweise auf das bisherige Schaffen der Coen-Brüder, auch über “Fargo” hinaus. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass Malvo eine völlig eigenständige Figur ist, die durch ihr Auftreten gleichzeitig fasziniert und verstört. Er legt sich mit jedem an und sorgt überall für blutgetränkten Ärger. Einen Menschen im eigenen Kofferraum zu transportieren gehört da noch zu den herkömmlichsten Methoden seines Gangstertums. Auch Lester Nygaard (Martin Freeman) kommt einem bekannt vor, denn der freundliche Versicherungskaufmann wird genauso gerne von seinen Mitbürgern rumgeschubst und belächelt wie der von William H. Macy gespielte Autoverkäufer Jerry Lundegaard im Film. Als Nygaard zufällig auf Malvo trifft, macht sich dann auch gleich ein ungutes Gefühl breit, auf was für ein Unheil es dieses Mal hinaus laufen wird. Aber auch hier ist es nur ein bloßes Andeuten, ein Spiel mit Erwartungen, das keinesfalls den Blick auf den neuen Charakter verdeckt. Gleiches gilt für die gesamte Serie: Es gibt einen gewissen Grundton und einen schwarzen, eigentümlichen Humor, der sich wie der der Coen-Brüder anfühlt, aber darüber hinaus gibt es noch so viel mehr, was die erste Staffel zu einem eigenständigen Projekt und Erlebnis werden lässt.
Eingebettet ist der Großteil des Plots wie im Film in den US-Bundesstaat Minnesota, bewegt sich statt im Dreieck Brainerd-Minneapolis-Fargo (das eigentlich schon in North Carolina liegt) aber zwischen Bemidji, Duluth und Fargo. Was bleibt, ist die einzigartige Atmosphäre des US-Bundesstaates im Mittleren Westen mit unendlichen Schnee- und Eislandschaften – und das obwohl der Großteil der Serie im kanadischen Calgary gedreht wurde. Wirklich essenziell für das Gefühl sind demnach die Schauspieler, die viel mehr leisten als nur den eigentümlichen Akzent der Region zu reproduzieren. Noch heute besteht der überwiegende Teil der dortigen Bevölkerung aus skandinavischen Migranten und deren Nachfahren, die ein ganz eigenes Wesen an sich haben. Die Coen-Brüder selbst stammen aus Minneapolis und haben hinter diesem überfreundlichen, christlichen Auftreten ihrer Mitmenschen schon immer eine dunkle Seite vermutet. Martin Freeman bringt diese Attitüde durch sein interessantes Spiel auf den Punkt. Lester Nygaard hat noch nie jemandem wehgetan und hat noch nie jemandem widersprochen, aber seine Mimik zeigt deutlich, dass er sich nichts mehr wünscht als über seinen Schatten zu springen. Nicht nur in diesem Punkt ähnelt er Walter White, der im Laufe von “Breaking Bad” eine erstaunliche, aber auch erschreckende Entwicklung durchlebt hat. Bei der Besetzung sind den Machern noch ein paar weitere Coups gelungen.
Neben etablierten Größen wie dem stark aufspielenden Billy Bob Thornton und dem Film- & Serienschwergewicht Martin Freeman gehört zum Beispiel Keith Carradine dazu, der weit über seine Rolle in “Dexter” wieder gefragt zu sein scheint. Auch Tom Hanks‘ Sohn Colin war in der Serie um den Serienkiller Dexter zu sehen, bekommt dieser Tage aber auch viele Filmangebote. Überraschend groß ist die Nebenrolle von Bob Odenkirk ausgefallen, der bald wieder als schmieriger Anwalt Saul Goodman zu sehen sein wird. Bei der vielleicht wichtigsten Rolle fehlt allerdings ein großer Name: als Deputy Molly Solverson tritt die recht unbekannte Allison Tolman auf, die sich jedoch als absoluter Glücksgriff der Produzenten erweist. Die Newcomerin sieht so herrlich normal aus, dass sie eine der wenigen Personen ist, an der man sich in dieser verrückten Welt festhalten kann. Auch hier sind die Parallelen zu Marge Gunderson zu sehen, für deren Interpretation Frances McDormand den Oscar verliehen bekam. Doch trotzdem: wer den Erfolg der Serie an den Elemente des Films misst, der wird mit den zehn Folgen wohl nicht glücklich.
Der Film ist minimalistisch und zeigt, dass die abstrusen und frei erfundenen Handlungen (die Anmerkung zu Beginn jeder Folge ist nur ein künstlerischer Kniff) auch im richtigen Leben passieren könnten. Die Serie ist viel größer und komplexer, was sie auch sein muss, um die zehn bestellten Folgen abliefern zu können. Der Plot beschränkt sich eben nicht nur auf die benannten Städte, sondern enthält auch Ausflüge nach Las Vegas und die kanadische Grenze. Das unterstreicht zum einen die Rastlosigkeit eines Lorne Malvo, der überall ein Fremder ist, nimmt der Geschichte aber ein Stück weit den Charme, den die Beschränkung auf die Provinz hätte. Sie ist aber auch bunter und einige Charaktere sind abgefahrener als in der Realität, einige Handlungen sind dagegen völlig überzogen. Das passt zu der offensichtlicheren Symbolik und literarischen Querverweisen, die teilweise nur schwer zu entschlüsseln, manchmal aber zu eindeutig und ausgelutscht sind. Gleiches lässt sich von den zahlreichen Foreshadowing-Momenten behaupten, denen ein wenig mehr Subtilität durchaus gut getan hätte. An anderen Stellen sprechen die Figuren nur in Sentenzen, was mit der sonst vorherrschenden Umgangssprache nicht in Einklang gebracht werden kann. Die Serie ist sich dessen wohl bewusst und nimmt sich ab und an selbst auf den Arm, anderswo gelingt der Spagat, der einen grübeln lässt und die Staffel zu einem zweiten Durchlauf im heimischen Abspielgerät verhelfen kann. Vielleicht erschließt sich erst dann, dass alles nur eine große Parabel ist, die weit über die Welt von “Fargo” hinaus weist. Dafür sprechen die vielen mythologischen und religiösen Motive wie auch die Figuren selbst, die nur selten Schattierungen aufweisen und bis auf die Ausnahme einer Person keine nennenswerte Entwicklung durchmachen. Das riecht nach antiker Tragödie, die schon oft in den Coen-Brüder Anklang fanden, vielleicht gibt es die Antworten darauf erst in den kommenden Staffeln.
Diese könnten dann ebenfalls dabei helfen zu erkennen, ob manch eine Schwäche nicht noch zur Stärke werden kann. Bei den vielen Charakteren der ersten Staffel verlaufen viele Handlungsstränge zunächst im Sand (oder im Schnee?), allerdings machen einige Szenen Hoffnung auf deren Wiederaufnahme. Schwieriger wird das schon in Bezug auf die vielen Zufälle auf denen der Plot basiert und auf manch Schlupfloch, bei dem der Wahnwitz der Handlung in unlogische Absurdität kippt. Das sorgt zwar für ein paar bemerkenswerte Plottwists und erinnerungswürdige Momente, weil bestimmte Situationen und ihr Witz nur eingebettet in diese Serie funktionieren, andere Szenen büßen ihre Spannung jedoch durch das Überdrehen dieser Schraube ein.Und obwohl es so viele Wendungen und Charaktere gibt, ergeben sich über die fast zehn Stunden Spielzeit einige Längen, die nicht wirklich zu diesen bunten, aufregenden und blutigen Geschichten aus Minnesota passen wollen.
Für eine Altersbeschränkung von sechzehn ist die Serie erstaunlich blutig und brutal, aber die FSK-Stelle scheint das heutzutage wohl ein bisschen lockerer zu sehen. Jedenfalls hat Malvo ein paar interessante Tricks und Methoden drauf, um seinen Willen zu bekommen und seine Aufträge auszuführen, aber auch hier ist es ab und an zu viel des Guten. Deutlich besser gefallen da die Szenen, Dialoge und Aussprüche die den Kultcharakter der Folgen und die Eigenständigkeit der Serie unterstreichen. Wer ganz besonders aufpasst, erkennt sogar mindestens einen Running Gag, über den sich die Schauspieler im Bonusmaterial amüsieren. Dementsprechend verfügt die Serie über ein Mehr, das die Serie ein Stück weit von der Vorlage abnabeln kann, obwohl die liebgewonnenen Aussprüche “For Pete’s Sake”, “Jeez” (beide übersetzt mit “Jesses”) und “Yah” und einige wieder auftauchende Elemente immer wieder an den Film erinnern. Außerdem sind die Folgen allesamt wunderschön in Szene gesetzt, was an den interessanten Schnitttechniken und Kameraeinstellungen, aber auch an dem fantastischen Setting liegt. Das alles ist zwar nicht immer innovativ (“Breaking Bad” grüßt ganz schon oft) und mit der feinen Klinge bearbeitet, die die Coen-Brüder-Filme immer wieder an der Perfektion kratzen lässt, aber es ist mordsmäßig unterhaltsam.
Letztendlich ist es mit “Fargo” wie mit den meisten Coen-Brüder-Produktionen: Die Serie macht eine Menge Spaß und verfügt über viele Momente, die man nicht missen möchte, zum Schluss lässt sie einen aber auch nachdenklich, wenn nicht sogar niedergeschlagen zurück. Nicht nur die große Zahl an Zufällen, sondern die ganze Ausgangslage zeigt den unverblümten Nihilismus auf, wie ihn Ethan und Joel schon so oft und zuletzt im sträflich unterbewerteten “Inside Llewyn Davis” dargestellt haben. Außerdem ist Noel Hawley in der Lage unbequeme Fragen zu stellen, weil er die dazu passende Umgebung schafft. Was ist Glück (in der Provinz)? Sind diese idiotischen Landeier wirklich schlechter als andere Menschen? Was ist Erfolg? Wer trägt wie viel Schuld? Wer hat am Ende wirklich gewonnen? Gibt es überhaupt Gewinner und Verlierer in dieser Welt? Obwohl nicht alles funktioniert und manchmal weniger mehr gewesen wäre, lässt das insgesamt nur einen Schluss zu: für eine erste Staffel nicht schlecht!
FAZIT: Es ist tatsächlich gelungen: “Fargo” ist kein uninspirierter Abklatsch des preisgekrönten Films, sondern ein Projekt, das eine erstaunliche Balance zwischen geschmackvollen Zitaten, detailverliebten Querverweisen und eigenständigem Charme gefunden hat. Dabei haben nicht die Coen-Brüder, sondern Noah Hawley die Serie entwickelt, die schwarzhumorig und spannend geworden ist, aber auch zum Nachdenken anregt. Aber “Fargo” ist nicht nur eine Serie für Nerds, sie funktioniert ebenso gut als eigenständige, toll gedrehte Krimiserie mit einem eigenen Sinn für Humor, einer eigenen Atmosphäre, interessanten Charakteren, tollen Schauspielern und kultigen Momenten. Die feine Klinge der Coens kann Hawley mangels Erfahrung noch nicht entwickelt haben, weswegen einiges zu überambitioniert wirkt, anderes zu platt und wieder anderes zu langatmig. Dennoch ist das für eine erste Staffel durchaus überzeugend und macht Freude auf das, was gerade für die zweite Staffel abgefilmt wird.
Cover und Szenenfotos © 20th Century Fox Home Entertainment
- Titel: Fargo
- Produktionsland und -jahr: USA, 2014
- Genre:
Krimi
Drama
Comedy - Erschienen: 07.05.2015
- Label: 20th Century Fox Home Entertainment
- Spielzeit:
540 Minuten auf 4 DVDs
540 Minuten auf 3 Blu-Rays - Darsteller:
Billy Bob Thornton
Glenn Howerton
Russell Harvard
Oliver Platt
Tom Musgrave
Colin Hanks
Kate Walsh
Bob Odenkirk
Peter Breitmayer
Joey King
Martin Freeman
Allison Tolman
Adam Goldberg
Josh Close
- Regie:
Adam Bernstein
Randall Einhorn
Colin Bucksey
Scott Winant
Matt Shakman - Drehbuch: Noah Hawley
- Kamera: Matthew J. Lloyd
- Musik: Jeff Russo
- Extras:
Entfallene Szenen
Audiokommentare
Eine wahre Geschichte
Grüße aus Bemidji
Bösewichte und Grünstufen - Technische Details (DVD)
Video: 16:9, 1,78:1
Sprachen/Ton: D, GB, FRA
Untertitel: D, GB, FRA
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 16:9, 1,78:1
Sprachen/Ton: D, GB, FRA
Untertitel: D, GB, FRA
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 12/15 dpt
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