Nicht erst seit der populären Serie von Carlos Ruiz Záfon, “Der Friedhof der vergessenen Bücher”, oder der “Tintenwelt”-Trilogie von Cornelia Funke wird in der phantastischen Literatur den Büchern eine geheime Kraft zugesprochen. Dieses Motiv reizt auch Kai Meyer in seinem neuen Roman “Die Seiten der Welt” aus, denn Bücher haben hier keine geheime Kraft, sondern eine gewaltige Macht. Sie können eine ganz eigene Welt erschaffen und auch wieder zerstören. Die Storyidee überzeugte die Jury des Seraph-Preises, denn sie ernannten in diesem Jahr “Die Seiten der Welt” und seinen Autor Kai Meyer zum Preisträger in der Kategorie “Bestes Buch”. Und das schon zum zweiten Mal nach “Asche und Phönix” im Jahr 2013.
Furia Salamandra Faerfax entstammt einer berühmten Familie von Bibliomanten, also Menschen, die Magie aus Büchern entfesseln können. Sie ist fünfzehn Jahre alt, schwelgt in Abenteuerromanen und wartet sehnsüchtig darauf, dass ihr Seelenbuch sie findet, jenes Buch, das sie zur Bibliomantin macht. Mit ihrem Vater und ihrem nicht bibliomantisch begabten Bruder Pip lebt Furia auf einem einsamen Landsitz in England. Unter dem Anwesen befindet sich eine gigantische Bibliothek. Sie bildet eine ganz eigene Welt mit Origami-Vögeln, die Staub picken und Schwärmen an Buchstaben, die kommunizieren. Furia kann bereits ein paar einfache Zauber wirken, sie liest im Schlaf und führt Gespräche mit ihrer Leseecke, einem lebenden Sessel und der Stehlampe. Doch bei dem, was sie erwartet, als ihr Vater sie zu einer Jagd auf die leeren Bücher mitnimmt, können ihr kein Trick und kein Rat helfen. Eine alte Fehde der mächtigen Bibliomantenclans holt die Familie Faerfax ein und ruft Mörder auf den Plan. Furia flieht nach Libropolis, einer Bücherstadt mit kämpfenden Schnabelbüchern und lebenden Romanfiguren. Wie Furia werden diese Wesen verfolgt und bedroht. Kann sie wenigstens ihren Weggefährten Finnian und Cat trauen? Und welche Rolle spielt sie in den Intrigen der mächtigen Adamitischen Akademie?
Eine magische Bücherwelt zerbricht
“Die Seiten der Welt” erzählt eine Geschichte, die wie gemacht scheint für den bibliophilen Phantasten (oder phantastischen Bibliophilen – wie man möchte). Das Buch erschien bei dem Jugendbuchlabel FJB (Fischer Jugendbuch), ist aber eher für junge Erwachsene geeignet. Die Protagonistin Furia ist zwar erst fünfzehn Jahre alt, doch ihre Geschichte hat nur bedingt Ähnlichkeit mit einer klassischen Coming-of-Age-Story. “Die Seiten der Welt” ist eine Abenteuergeschichte in einer Welt der Büchermagie.
In diese magische Welt führt uns der Autor zu Anfang ein, als Furia ihr geheimes Lieblingsbuch, das sie vor dem Vater verstecken muss, in der Bibliothek sucht. Sofort wird deutlich, dass es in dieser Umgebung alles andere als friedlich zugeht, denn Furia muss sich gegen eine der Kreaturen dieses Refugiums wehren. Ganz ohne das Thema junge Liebe kommt auch “Die Seiten der Welt” nicht aus. Furia unterhält mit Hilfe eines Buchs eine Art Brieffreundschaft mit dem zwei Jahre älteren Severin Rosenkreutz, einem ihrer Vorfahren, der im Jahr 1804 lebt. Diese charmanten und nachdenklichen Dialoge, gehören zu den schönsten Passagen des Romans.
Abwechselnd zu den Szenen im Landsitz der Faerfax springt die Handlung zunächst nach Argentinien, und wir lernen die Gegner kennen, die alterslose Dame Mater Antiqua, die einer Mörderin, Die Umgarnte genannt, einen Auftrag erteilt. Schließlich verlagert sich die Handlung auf den Schauplatz Libropolis und hier überschlagen sich die Ereignisse.
Furia und ihre neuen Begleiter werden durch die Gassen der Bücherstadt gehetzt, sie verbergen und wehren sich. Durch dieses extreme Tempo wirkt dieser Teil der Geschichte disharmonisch. Zu Beginn gibt es für Furia nichts wichtigeres, als ihrem Seelenbuch zu begegnen. Doch als es dann soweit ist und ein sprechendes Buch mit eigener tragischer Geschichte Furia findet, wird das Ereignis eher lieblos abgehandelt. Zwar darf das Seelenbuch ab und zu das Geschehen kommentieren, doch überwiegend fungiert es Mittel zum Zweck, bibliomantischen Zauber zu erzeugen. Was schade ist, denn Furias Schnabelbuch ist eine Figur, die eine zentralere Rolle verdient hätte. Die Exlibri, aus Büchern gefallene und in den Ghettos von Libropolis lebende Figuren, sind Verlierer und zugleich Rebellen. Zwei von ihnen lernen wir zwar etwas näher kennen, dennoch hätte man gern noch etwas mehr über sie erfahren. Stattdessen wird gleich an mehreren Fronten gekämpft und revoltiert. Der Zauber des Moments verliert sich zu oft in der Fülle der Geschehnisse.
Kaum eine der Figuren (mit Ausnahme der Killerin und ihrer Schergen) ist eindeutig sympathisch oder boshaft. Selbst die jugendliche Heldin geht manchmal ungewöhnlich brutal vor, und auch ihre Begleiter haben Leichen im Keller. Als tief traumatisierter Junge wirkt Pip, der kleine Bruder von Furia, der in die Fänge der Umgarnten gerät, besonders anrührend. Und so verzeiht man Furia manch fragwürdigen Einsatz ihrer neu gewonnenen Magie. Denn in erster Linie will sie ihren Bruder befreien und ist nur nebenher mit der Rettung der Welt beschäftigt.
“Die Seiten der Welt” ist der Auftakt zu einer neuen Reihe des Schriftstellers. Mich würde interessieren, ob die Story ursprünglich schon als Serie geplant war, oder ob Autor und Lektor im Laufe der Arbeit an dem Roman festgestellt haben, dass für einen abgeschlossenen Roman zu viele Ereignisketten in dieser verschachtelten Welt angestoßen wurden. Das wäre eine mögliche Erklärung dafür, dass dieser Auftaktband so überladen wirkt. Insgesamt hat Kai Meyer eine originelle Welt erschaffen, die voller Überraschungen steckt, Furia und ihren Mitstreitern folgt man gern in das spektakuläre Abenteuer. Schon ab dem 25. Juni 2015 kann man das weitere Schicksal der Bibliomantenwelt in “Die Seiten der Welt – Nachtland” verfolgen.
Cover © FJB
- Autor: Kai Meyer
- Titel: Die Seiten der Welt
- Verlag: FJB (Fischer Jugendbuch)
- Erschienen: September 2014
- Einband: gebunden
- Seiten: 560
- ISBN: 978-3-8414-2165-4
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 11/15 dpt