Anne Tyler – Der leuchtend blaue Faden


Anne Tyler - der leuchtend blaue Faden (Cover © Kein & Aber)Blau ist die Farbe dieses Romans: Es ist die Farbe des Hippie-Gewands, das Red zu seiner Hochzeit in den Sechzigern trägt, es ist die Farbe, die Linnie aus Rache auf den Stufen des teuren Traumhauses ihres Mannes verteilt und es ist die Farbe des Garns, das Denny – das schwarze Schaf der Familie – nach dem Tod seiner Mutter in die Hände fällt und das ihm das Gefühl vermittelt, dass sie ihm verzeiht.

Red, Linnie, Denny – Angehörige dreier Generationen einer Familie – sind die Figuren dieses Romans, der einen packt, in die Handlung hineinzieht und nicht mehr loslässt. Zu ihnen gesellen sich Brüder und Schwestern, Ehemänner und Ehefrauen, Neffen und Nichten. Sie alle kreisen um das Haus, das der Urahn der Familie einst gebaut hat und in dem sie an Familienfesten und zu anderen Anlässen zusammenkommen.

Der Roman ist in vier Teile gegliedert und lässt die Familienmitglieder abwechselnd zu Wort kommen. Durch diese Erzählhaltung ergibt sich ein umfangreiches Bild der Komplexität von Beziehungen innerhalb einer Familie und den ambivalenten Gefühlen, die ein jedes Familienmitglied ihr gegenüber empfindet.

Anne Tyler zeichnet das Bild einer amerikanischen Großfamilie, die durch den Willen zum Aufstieg und dem starken Glauben in ihre Besonderheit als Familie geprägt ist. Die amerikanische Autorin und Pulitzerpreisträgerin ist Fachfrau für die literarische Darstellung des familiären Beziehungsgeflechts.

Tyler bildet realistisch die unterschwelligen Spannungen innerhalb einer Familie ab, die stets zugleich Gefängnis ist und Ort von Geborgenheit, aus der man ausbrechen möchte und stets zurückkehrt. Besonders deutlich wird dies in der Figur des rebellischen Sohnes Denny, der sein Leben lang versucht, seinem Zuhause zu entkommen und den es immer wieder dahin zurückzieht. Dennys beherrschendes Lebensgefühl ist es, zu kurz gekommen zu sein. Er verlässt die Familie, möchte ein von ihr getrenntes Leben führen, sie hinter sich lassen, und muss letztendlich erkennen, dass die Familie einen innerlich nie verlässt und lebenslanger Fixpunkt bleibt. Von ihr ausgehend konstruiert sich eine Identität, mit ihr hat Denny die prägenden Momente seiner Kindheit verbracht, die ihn so sehr bestimmen, dass er noch als Erwachsener den gleichen Streit mit seinem Bruder führt wie in Kindertagen.

Dennys Perspektive wird durch die seiner Mutter ergänzt. Wo Denny das Gefühl hat, zu wenig Aufmerksamkeit bekommen zu haben, weiß seine Mutter, dass sie ihn immer bevorzugt hat, und die anderen Kinder ihm zuliebe vernachlässigt hat. Jetzt Jahre später kämpft sie mit den Erinnerungen, der Erbitterung und dem Alter: »Eines sprachen Eltern von Problemkindern nie laut aus: dass es eine Erleichterung war, wenn aus diesen Kindern am Ende doch etwas wurde, aber wohin dann mit dem Groll, den die Eltern all die Jahre gehegt hatten?«

In Tylers Roman begegnet man einer exzentrischen Familie mit den verschiedensten Persönlichkeiten, die in ihrem Sein als Familie jedoch eine Normalität aufweist, die sie als Spiegelbild einer jeden Familie erkennen lässt. Tyler hat exemplarisch anhand dieser Familie ein allgemeingültigeres Bild von Familienbeziehungen und Beziehungen zur Familie gezeichnet, in dem ein jeder sich wiederfinden kann, daraus Trost ziehen oder über sich selbst lachen.

Cover © Kein & Aber

  • Autor: Anne Tyler
  • Titel: Der leuchtend blaue Faden
  • Originaltitel: A Spool of Blue Thread
  • Übersetzer: Ursula-Maria Mössner
  • Verlag: Kein & Aber
  • Erschienen: 2015
  • Einband: gebunden
  • Seiten: 447
  • ISBN: 978-3-0369-5712-8
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite mit Erwerbsmöglichkeit

     

Wertung: 14/15 dpt


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