Rüdiger Esch – Electri_City – Elektronische Musik aus Düsseldorf (Buch)


Rüdiger Esch - Electri_City Cover © SuhrkampRüdiger Esch »spielte 1986/87 gemeinsam mit Drummer Klaus Dinger in dem Bandprojekt, das La Düsseldorf und Neu! nachfolgen sollte; seit 1988 Bassist der Elektronikband Die Krupps, Mitglied der Punkband Male und des Studioprojekts MakroSoft. Er lebt mit seiner Familie im Süden von Düsseldorf.« Wenn also jemand für den Versuch qualifiziert war, “Elektronischer Musik aus Düsseldorf, 1970-1986” ein Denkmal zu setzen, dann er. Kurzkritik: Das Unterfangen ist triumphal gelungen. Der Autor bzw. hier eher Herausgeber hat durch die ambitionierte Aufbereitung als “Oral History” und die chronologische Struktur maximalen Aufwand getrieben: Es wurden nicht etwa nur ohnehin vorhandene Quellen angezapft, sondern explizit für diese Veröffentlichung über 50 Gespräche mit Zeitzeugen geführt (vgl. “Textnachweise, S. 453 ff.). Diese exklusiven Interviews erscheinen aber nun nicht etwa en bloc im Buch, sondern pro betrachtetem Jahr werden relevante Textpassagen daraus thematisch so gruppiert, dass sich die Interviewten quasi gegenseitig kommentieren, ergänzen, bestätigen oder auch widersprechen. Dieses Ordnungsprinzip verlangt zugegeben auch vom Leser maximale Konzentration, ergibt in Summe aber ein anders kaum zu erreichendes, nur noch durch die Auswahl “wertendes”, also nahezu authentisches Zeitbild.

Das einfühlsame Vorwort von Wolfgang Flür (Ex-Kraftwerk) arbeitet u.a. die “Demokratisierung” heraus, also die Möglichkeiten, welche die neuen “elektronischen” Instrumente, die ersten bezahlbaren Analog-Synthesizer, auch darstellten: »Du musstest keine musikalische Ausbildung mehr genossen zu haben, um sie zu bedienen, und eine musikalische Virtuosität wurde bestenfalls durch einen tüftlerischen Wissensdurst ersetzt. Plötzlich konnte jeder Musik machen.« (S. 10; vgl. Robert Görl: »Erst ein [Autritts-]Poster kleben und dann ein Instrument kaufen«; S. 222; vgl. auch diese “Rezeptur”: »[…] und immer ging es um die Verwendung billigster Elektronik, bewussten Antiprofessionalismus, litaneiartige Wiederholung programmatischer Floskeln, und das Ganze vor einer möglichst monotonen Klang- und Geräuschtextur«, S. 262). Die (natürlich nicht ausschließlich) von Düsseldorf u. Umgebung ausgehende Bewegung hatte belegtermaßen große Strahlkraft: »… hatte unsere Musik ganze Generationen von englischen Musikern infiziert: Ultravox, OMD, Joy Division, Human League, Heaven 17, Depeche Mode, Visage, Gary Numan, ja selbst David Bowie war nach eigenen Aussagen geprägt und inspiriert von Bands wie Kraftwerk, Neu! oder La Düsseldorf.« (S. 11; vgl. a. S. 136).

Danach erläutern die wichtigsten Protagonisten “in their own words” die Frage “Warum überhaupt Düsseldorf” (“Prelude”, ab S. 15; vgl. auch »Düsseldorf hatte einen Klang von Werbung, Mode und Kunst, irgendwie so etwas Stolzes, Aufrechtes«, S. 217; »Das ist wieder ganz typisch deutsch, ganz typisch Düsseldorf, dieses Vergleichen. Das ist noch nicht einmal Neid, das ist Angst«, S. 269), worauf mit dem Jahr 1970 die Chronik beginnt.

Und die Abgrenzungen: Wir lernen die Affinitäten und Gegensätze zwischen Elektronik, Krautrock und Jazz ebenso kennen (S. 41; Abgrenzung zu Hindemith & Co. S. 101 u. zum Prog S. 113; »[…] da konventionelle (sic!) Deutschrockbands wie Novalis, Birth Control, Triumvirat, Atlantis, Jane oder Nektar plötzlich durch Amerika tourten […]« S. 122) wie die Zusammenhänge zwischen Kunst(Akademie; vgl. Beuys, u.a. S. 215 ff.) und Elektroszene. 1971 kommen die ersten Synthesizer nach Deutschland (u.a. zu Eberhard Schöner, Wolfgang Dauner, Tangerine Dream; S. 48-49). Wir erfahren, wie man Phasing-Effekte von Hand realisierte (S. 71), erleben die »Geburtsstunde des Remixes« (’73; S. 82) und – vielleicht – sogar die des Punk (’74; S. 105). Wir besuchen, immer wieder, Conny Planks legendäres Studio und lernen sogar die hier aufgerufenen Tagessätze kennen (S. 96) und begegnen sogar zeitgemäßen Finanzierungsmodellen für Korg-Instrumente (Haschisch-Dealen, S. 227).

1978 finden wir erstaunt “Rheinita” von La Düsseldorf im Clinch bei der “Schlagerrallye” mit “Go Your Own Way” von Fleetwood Mac und “Take A Chance On Me” von ABBA (S. 206)

1980 – die heute wieder aktiven Fehlfarben besingen “Monarchie und Alltag” und Der Plan entsteht – während DAF bei Gigs Mini-Exemplare von “Mein Kampf” verteilen… 1982 – ein Vorläufer der Einstürzenden Neubauten wird aufgerichtet (S. 333) – und Techno erfunden (S. 335)!

1986 – »Mit der Neuen Deutschen Welle, die dann ins seichte Schlagertum schwappte, wollten wir nichts zu tun haben. Wir fanden, es sei das Beste, sich einfach aufzulösen.« (Gabi Delgado, DAF, S. 405).

1987 – Conny Plank stirbt – und der Bewegung geht so langsam der Saft aus…

Also nur Licht und gar kein Schatten? Fast. Der einzige Wunsch, den das aufwändig mit Porträts der auftretenden Menschen (teils bereits verstorben; ab S. 417) und sogar der “Maschinen” (Synthesizer, Sequencer; ab S. 444) versehene und sogar mit einem zweiten “Erweiterten” Inhaltsverzeichnis (ab S. 461) aufwartende Buch überhaupt offenlässt, ist ein Index für Bands und Musiker, welcher sich gerade aufgrund derer im Werk behandelten Vielzahl angeboten hätte. Konkret: Wenn man sich beispielsweise speziell für Der Plan interessiert und die Spur der Band durch die Jahre und Seiten verfolgen will, sucht man sich einen Wolf. Außerdem lassen sich einige wenige (angesichts der Materialmassen lässliche) Editionsfehler finden, z. B. falsche Trennung S. 300).
Dennoch in Summe ein ungemein beeindruckendes Buch und Zeitzeugnis – das daher auch eine kaum vermeidliche Lektüre für Elektromusik-Jünger, für generell an (deutscher) Musikgeschichte Interessierte, kulturbeflissene Rheinländer sowie natürlich Kombinationen dieser Zielgruppen darstellt.

PS: Sinnvollerweise wurde zu diesem Band eine gleichnamige CD mit 13 Songbeispielen auf Herbert Grönemeyers Grönland Records veröffentlicht – zu dieser liefern wir eine Besprechung nach, sobald wir sie auf den Rezensier- bzw. Seziertisch bekommen!

PPS – Update 14.01.15: Das ist unterdes passiert, zur Rezension der Compilation geht es hier.

Wertung: 13/15 dpt


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