Karl Kraus ist heute noch für zahlreiche Leser eine Zumutung. Er war Satiriker, Dramatiker, Essayist, Moralist, selbsternannte Wahrheitsinstanz, Polterer und Philosoph in Personalunion. Es gibt nicht wenige Germanisten, die diesem Selbstbildnis von Karl Kraus bedingungslos folgen – andere wenden sich irritiert ab und verleihen diesem Intellektuellen all zu schnell das Etikett “unlesbar”.
Tatsächlich gehört Karl Kraus nicht zu den großen Klassikern, auch wenn er geistesgeschichtlich und von seinem Werk her durchaus das Zeug zu einem der großen Klassiker hätte. Doch wie so viele Satiriker versah er seine unnachahmliche Gedankenschärfe mit zeitgenössischem Kolorit. Begriff er sich selbst als übergeordnete Instanz, verwurzelte er seine Texte ganz tief im Hier und Jetzt der Jahre 1890 – 1936. Und genau diese Aktualität und Direktheit ließ die syntaktisch schwierigen und ungewöhnlichen Texte leben. Heute allerdings sieht sich der geneigte Kraus-Leser vor der Aufgabe, nicht nur die Syntax seiner Essays und Dramen zu entwirren, sondern auch damalige Personen, Ereignisse und Schlagzeilen zu recherchieren, um die vielen Pointen und Anspielungen genießen zu können. Ohne diese Kenntnis historischer Hintergründe bleibt das Werk Karl Kraus’ hermetisch abgeschlossen. Aus Erfahrung des Rezensenten ist es um ein Vielfaches einfacher, Musils “Mann ohne Eigenschaften” zu lesen als zehn Essays aus “Die Fackel” von Karl Kraus.
Einer, der sich auf den Weg gemacht hat, seine Neugier auf Karl Kraus mit extremem Textstudium zu befriedigen, ist ausgerechnet ein Amerikaner: Jonathan Franzen. In Buchhändler-Kreisen ist Franzen eher der “Familienroman-Typ”. Dass er ein hochintellektueller Autor ist, der einiges an Hirnschmalz von seinen LeserInnen abverlangt, beweist Franzen mit seinen Essays, die rowohlt u.a. im Sammelband “Anleitung zum Alleinsein” versammelt hat – und nicht zuletzt auch in seinem aktuellen Werk: “Das Kraus-Projekt”. Um genau zu sein heißt das Werk vollständig: “Das Kraus-Projekt. Aufsätze von Karl Kraus mit Anmerkungen von Jonathan Franzen. Unter Mitarbeit von Paul Reitter und Daniel Kehlmann”
Der Titel allein ist schon mal ein Statement. Es geht hier also mitnichten um Essays von Jonathan Franzen, in denen er verschiedenen Facetten des Kraus’schen Werks nachspüren würde. Nein es ist am Ende des Tages “nur” ein kommentierter Abdruck zweier Essays von Karl Kraus (“Heine und die Folgen” und “Nestroy und die Nachwelt”) – erweitert und im wahrsten Sinne des Wortes “bereichert” mit einem immensen Fußnoten-Apparat, in dem Franzen seine Sicht und seine Interpretation seinen Lesern mit auf den Weg gibt. Das amerikanische Publikum mag aus diesem Werk ein wenig mehr Ausbeute erzielen, bekommt es doch in diesem Band die englische Übersetzung der Kraus’schen Essays durch Franzen geliefert. Mit dabei, quasi als Stimmen aus dem Off, sind Daniel Kehlmann und der Kraus-Forscher Paul Reitter, die mit eigenen Fußnoten die Sicht Franzens ergänzen.
Ganz klar bleibt jedoch, egal ob amerikanische oder deutsche Ausgabe: Dieses Bändchen ist ein Werk für Nerds. Die Texte lassen sich nicht mal schnell runterlesen. Wir haben es hier eher mit literaturwissenschaftlichen poetologischen Texten zu tun, die dem Leser nicht die Welt erklären wollen, sondern “nur” einen Einblick in das Schriftsteller-Ich des Jonathan Franzen gewähren. Und dieses “Ich” scheint stark an einer an Kraus geschulten Sensibilität für Sprache und deren konnotativen Bedeutungsebenen angelehnt zu sein. Es ist aber auch das Bewusstsein, dass diejenigen, die über Sprachgefühl verfügen auch eine ganze Menge Verantwortung tragen: Denn, wer über Sprachmacht verfügt, der kann Realitäten aufbauen. Zentral ist Kraus Aperçu »Hätten die Massenmedien in Deutschland und Österreich anders berichtet, wäre es nicht zum ersten Weltkrieg gekommen« Das, wovor Kraus seine Zeitgenossen warnte, gilt gerade heute. Diese Medienkritik ist heute aktueller denn je und muss nicht zwingend mit der Idee des Konstruktivismus unterfüttert werden. Skepsis, Zweifel und Wachsamkeit gegenüber allem Geschriebenem – dies kristallisiert sich im Laufe der Lektüre des “Kraus-Projekt” als der zentrale Punkt heraus. Von hier aus verweisen zahlreiche Verbindungslinien zum erzählerischen Werk Franzens und zeigen ihn stark in der europäischen Erzähl- und Philosophietradition verwurzelt.
Deutlich wird aber auch die Distanz, die zwischen ihm und Kraus liegt und die ihn nicht zu einem Epigonen macht: Wo Kraus, teils aus Weltanschauung, teils aus Verbitterung nur noch bitterböse mit Worten um sich schlug, erweist sich Franzen als kluger, warmherziger Kritiker seiner Zeit. Seine Medien- und die daraus auch resultierende Konsumkritik mag vielleicht an dem ein oder anderen Punkt zu rigoros und zu pauschal sein, doch inspirierend und vor allem streitbar – und lesbar! – bleibt die Lektüre – für Nerds! – immer.
- Autor: Jonathan Franzen
- Titel: Das Kraus-Projekt. Aufsätze von Karl Kraus mit Anmerkungen von Jonathan Franzen. Unter Mitarbeit von Paul Reitter und Daniel Kehlmann.
- Originaltitel: The Kraus Project. Essays by Karl Kraus
- Übersetzer: Bettina Abarbanek
- Verlag: rowohlt
- Erschienen: 28.11.2014
- Einband: Gebunden
- Seiten: 304
- ISBN: 978-3-498-02136-8
- Sonstige Informationen:
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