Der Vinyl-Terrorist #6: Breaking the law


vt2Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden. Das wissen nicht nur Teenager und Mafiosi, sondern – spätestens seit Erfindung des Freejazz – auch Freunde schlimmer Musik. Beginnend mit dem Saxophonisten Ornette Coleman vernichtete die Musikavantgarde seit den 1960ern musiktheoretische Regeln, die sich über Jahrhunderte bewährt hatten. Harmonie, Melodie und Rhythmus mussten dran glauben wie die Jungfräulichkeit einiger Erstsemesterinnen bei der sexuellen Revolution.

Die musikalische Jungfräulichkeit der Ohren des Vinyl-Terroristen ist längst dem Easy-Listening zum Opfer gefallen. Zeit, mit den von mir selbst aufgestellten Regeln für diese Kolumne zu brechen, und eine Platte zu besprechen, die das veranschlagte Budget von 2 € um mehr als die Hälfte überschreiten. Aber die nun hier besprochene Musik darf ich Ihnen, werte Leserschaft, nicht vorenthalten.

Aber noch etwas ist neu in dieser Kolumne: Zum ersten Mal bespreche ich eine gezielt ausgewählte Schallplatte (was auch erklärt, warum ich meinen eigenen Haushaltsplan missachte).

Die Geschichte beginnt in Liverpool, Heimatstadt der berühmten Band “The Zutons“. Ich war auf einer Graduierten-Feier des Fachbereichs Musik der University of Liverpool eingeladen. Obwohl man nicht explizit danach fragte, hatte ich ein Redenmanuskript vorbereitet, welches es in sich hatte. Einige der altehrwürdigen Honorierten dieses Fachbereichs würden einiges zu schlucken haben. Ihr Glück, dass sie mich auch direkt vor Ort nicht nach einer Laudatio fragten (und ich sehr zurückhaltend bin), und so habe ich das Manuskript sowie einige wertvolle Schellackplatten, welche sich noch in meinem Besitz befanden, der James-Last-Stiftung übergeben.

Am 3. Dezember sollte es zurück nach Berlin gehen, und ich erreichte meinen Flug in allerletzter Minute. Ich nahm neben einem britischen Gentleman Platz, so eine Art Alltags-John Cleese, überaus freundlich, sehr humorvoll und etwas harthörig, da er – wie ich im folgenden Gespräch erfuhr – Hornist ist und als solcher seit etlichen Dekaden vor den Trompeten im Orchester platziert wurde (Ohropax hat sich erst vor kurzer Zeit durchgesetzt. Haben Sie schon mal direkt vor vier aus voller Kehle tönenden Trompeten gestanden?). Dieser Gentleman war Hornschüler bei Alan Civil, den Beatles-Fans bekannt als Solohornist des Songs “For no one” (Revolver, 1966), welcher dummerweise die prozentuale Beteiligung des Verkaufserlöses ablehnte und sich stattdessen für eine Festgage entschied (was ihm immerhin noch mehr als 100 Pfund pro gespielter Note einbrachte). Nachdem ich mich mit seinem Schüler über unsere musikalischen Vorlieben unterhalten hatte (von Country über die Beatles bis hin zu zu Progrock), empfahl dieser mir die Band “Focus”. Mit Blick auf mein Notizbuch beharrte er: »Hocus Pocus! From the band Focus! Write that down. Write it down! Hocus Pocus from the Band Focus!« Ein Album eben jener Band fand also kurze Zeit später seinen Weg in meinen Besitz: “Moving Waves”.

“Focus” aus den Niederlanden ist eine hochvirtuose Prog-Rock-Band, deren Frontmann Tys van Leer mit seinem Blick zwar nicht töten, aber zumindest Paranoia und Alpträume verursachen kann. Er sieht aus wie eine Mischung aus Peter Ehlebracht von Insterburg & Co und Borka, Chef der Borkaräuber in Ronja Räubertochter. Und er benimmt sich auch genau so, wie ich mir eine Mischung aus beiden vorstelle (was man nicht auf der Platte hört, aber sieht, wenn man sich einige Focus-Livemitschnitte anschaut).

vt06Das Vinyl startet mit dem Song “Hocus Pocus” – yes, I wrote that down – einem instrumentalen Progressive-Rock-Song, bei dem van Leer neben der Orgel auch die Flöte bedient, jodelt und auf seiner Zahnlücke pfeift, dabei immer schelmisch, geil-geifernd und irr ins Publikum zwinkert (wer sieht bei dieser Beschreibung keinen brandschatzenden, plündernden, vergewaltigenden Waldschrat vor sich, der seine eigenen Heldentaten in einem Bänkellied mit verzerrtem E-Gitarrensolo besingt).

An diesen Zeilen merkt der geneigte Leser, dass der Hörgenuss nicht ausreicht, um “Focus” in all seinem Irrsinn fassen zu können. Denn das Auge hört nun mal mit, zumindest bei Hocus Pocus. Nun denn: Hocuspokusfocusdreimalschwarzerkater.

Wer so viele negative Assoziationen hervorruft, braucht keine Texte. Und so entpuppt sich “Moving Waves” als fast astreines Intsrumentalalbum (Ausnahmen inklusive). Nachdem das herzinfarkt-verursachende “Hocus Pocus” vorbei ist, gönnen Focus uns ein wenig Ruhe. Typischer querflötengeschwängerter Progrock im Stil von King Crimson lässt einen nach den Sternen greifen, tief ins Weinglas schauen und gibt einem das Gefühl, der stärkste Mann der Welt zu sein. Zumindest in einer Welt, in der man ungestraft seinen Argumenten mittels einer Flammenaxt Gewicht verleihen kann. Diese Musik biegt des Hörers Schultern in eine symmetrisch-aufrechte Ausgangsposition, so heroisch, als lägen sämtliche Schlachten siegreich geschlagen hinter ihm. In dieser Emotion versiegelt nehmen wir es mit jeder neuen Herausforderung erfolgreich auf!

Auf der zweiten Seite erwartet den Hörer das Stück “Eruption”, das – typisch für den Rock der 1970er Jahre – so lange dauert, dass währenddessen Menschen geboren wurden und wieder starben. Symphoniengleich erstreckt es sich über die zweite Seite, unterteilt in mehrere Unterthemen, welche zwar in römischer Nummerierung (I bis IV) voneinander abgegrenzt sind, aber dermaßen schnörkellos ineinander übergehen, dass der Hörer nur erahnen kann, wo “Answer, Orfeus, Answer” endet und “Answer, Pupilla” beginnt (die Hörerschaft klassischer Themen horcht auf, und das kann sie auch getrost tun, ich gehe nicht näher darauf ein).

Diese Musik muss – so geziemt es sich – laut gehört werden und so tue ich dieses, ohne mich zu wundern, dass meine Nachbarn nicht die Polizei rufen, denn der Typ, der unten wohnt, hört seine Platten noch lauter (übrigens ein echter Rondo-Veneziano-Fan, vermutlich der einzige, den ich je kennengelernt habe).

Während ich noch meine Hanteln stemme, verklingt der letzte Akkord von Focus. Aber dieses Album wirkt nach. Ich bin nun zum Mann geworden. Regeln, die ich gestern aufgestellt habe (zum Beispiel »Weinen in der Öffentlichkeit zeugt von Emotion und ist cool«) gelten heute nicht mehr. Der Pathos von “Moving Waves” hat mein Ego so weit aufgeblasen, dass ich erhobenen Hauptes in ein neues Zeitalter aufbrechen kann. Focus bringen es in fünf Worten auf den Punkt:

»The desire to reach upwards“ (letzte Textzeile von “Moving Waves”).

 P.S.: Was ist eigentlich eine Flammenaxt?

Danke auch an Judas Priest, ich hab mir mal einen eurer Songtitel geborgt und meiner Kolumne als Überschrift vorangesetzt.

Focus – Moving Waves

Preis: sag ich nich

Polydor, blue horizon 1971


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