Hier und dort liest man, dass vorliegende Dokumentation, welche am 14. Januar 2014 anlässlich des 100. Geburtstages des am 18. Januar 1914 geborenen und 1979 an den Folgen eines Hirnschlags gestorbenen Arno Schmidt auf arte ausgestrahlt wurde, nicht so ganz das Gelbe vom Ei sei, doch derlei Stimmen wurden vor allem von jenen laut, die mit der Literatur und Vita dieses Ausnahmeautors bereits größtenteils vertraut sind. Denn die können letztendlich nur enttäuscht werden – denn das Arno-Schmidt-Universum allein rein bibliographisch komplett zu erfassen und die Person selbst ausreichend und eingehend zu portraitieren, ist bei einer Spielzeit von 60 Minuten nun einmal völlig unmöglich.
Für Neueinsteiger, die in den Kosmos des Autors erst noch eintauchen wollen oder noch bei den Tauchübungen sind, ist “Mein HERZ gehört dem KOPF” jedoch eine inspirierende, interessante und zuweilen auch kreative Sendung, in der man anhand von Interviews, Erzählungen und Schilderungen von und mit Jan Philipp Reemtsma, Marie Darieussec, Uwe Timm, dem ein oder anderen Leser sowie Bewohnern Bargfelds (dem Dorf, in welchem Schmidt und seine Frau Alice seinerzeit endlich für sich selbst ‘angekommen’ waren) einige Einblicke gewährt bekommt.
Einblicke, wie er als Mensch war, wie sein Überwerk “Zettel’s Traum” entstanden ist (eine sechsstellige Anzahl einzelner, thematisch in Karteikästen mit Reiterkarten sortierter Notizen wurde nach zehn Jahren zu einem gigantischen DIN A3-Wälzer) , wie sich seine Literatur immer neue Wege suchte. Einblicke in seine teils absurden Wortspiele. Ein Anriss der wichtigsten Werke seiner Bibliographie. Interviewschnipsel mit Schmidt sowie (gewöhnungsbedürftige) Zitate Schmidts, die von der Schauspielerin und Hörbuchsprecherin Mechthild Großmann in Frontalaufnahme mit ihrer typisch tiefen, rauen Stimme vorgetragen werden, komplettieren diese Dokumentation, ebenso Ausführungen der Interviewten und Erzählenden, was seine Werke – und bei denen, die ihn selbst kennen lernen durften, auch Schmidt als Mensch – mit ihnen anstellte. In ihnen bewirkte. Sie geschmacklich prägte. Auch gewöhnliche Bewohner Bargfelds kommen gelegentlich zu Wort.
Dem Zuschauer wird Schmidt als ein immer introvertierter und sonderbarer werdender Mensch dargestellt, und es schien ganz so, als ob Schmidt die Flucht aus der Öffentlichkeit (die durch “Zettel’s Traum” plötzlich immenses Interesse an ihm zeigte) einerseits noch kreativer hat werden lassen – das nie fertiggestellte “Lilienthal” sollte das Werk darstellen, für das “Zettel’s Traum” lediglich eine Fingerübung gewesen sei -, andererseits weder gesundheitlich noch sozial allzu förderlich für ihn war. Ebenso litt seine Frau zuletzt sehr an der Entwicklung Schmidts, und letztendlich flüchtete sie sich wie er in Arbeit, die sie persönlich erfüllte.
Die persönlichen und literarischen Inhalte der Dokumentation halten sich die Waage, wobei hinsichtlich Literatur selbstverständlich auch “Leviathan”, “Kaff”, “Brand’s Haide”, “Die Gelehrtenrepublik” oder “Die Schule der Atheisten” angerissen werden, ebenso zahlreiche seiner Essays, Gedichte und sonstiger Werke und Beobachtungen. Und nicht zu vergessen: Seine Liebe zur Fotografie und den damit einhergehenden, an Wichtigkeit gewinnenden Diaabenden.
Wie aus den Schilderungen der in diese Sendung involvierten hervorgeht, war Arno Schmidt nicht nur für jene, die hier draußen lediglich seine Werke kennen oder kennen lernen möchten, ein Mysterium, sondern auch für die, in deren Leben Schmidt eine wichtige Rolle gespielt hat. Ebenso wird dem Zuschauer aufs Neue bewusst gemacht, wie viele Türen Schmidt mit seiner Literatur öffnete, wie viele Tabus er damit brach, wie er mit ‘respektvoll-respektlosem’ Umgang mit der Sprache neue Horizonte eröffnete und somit auch eine kleine Revolution in der Literaturszene angezettelt hat. Doch auch heute trauen sich nur wenige Autoren wirklich derart weit aus dem kreativen Fenster, wie es beispielsweise Marz Z. Danieleswki mit seinen sonderbaren Werken “Only Revolutions”, “Das Haus” und “Das Fünfzig-Jahr-Schwert” heuer wagt.
Sehenswert ist auch das Bonusmaterial. Zum einen findet sich ein kurzes Interview mit Regisseur und Filmproduzent Wenzel Storch, dem Zeichner des Bilderbuches “Arno & Alice”, zum anderen das über einstündige Interview zwischen Regisseur Oliver Schwehm und Jan Philipp Reemtsma in praktisch kompletter Länge, das nicht nur äußerst spannend und aufschlussreich ist, sondern zuweilen auch sehr emotional – dem Zuschauer wächst durchaus ein Kloß im Hals, als Reemtsma auf den Tod Schmidts zu sprechen kommt, bis das Interview dann endet, als er sichtbar und hörbar um Fassung ringt.
Ist man der experimentellen und besonderen Literatur auch nur ein kleines Stück weit zugetan, so ist diese DVD, welche sich in einem schicken Digipak plus Pappschuber beinhaltet und zusätzlich noch mit einem 52-seitigen Booklet und sechs Postkarten daherkommt, bestens dafür geeignet, seinen Kopf in zumindest eine der vielen Pforten zu einer Welt des Andersartigen hineinzustecken und so eventuell Blut zu lecken.
Cover © MFA+
- Titel: Arno Schmidt – Mein HERZ gehört dem KOPF
- Produktionsland und -jahr: D, 2014
- Genre:
Dokumentation, Biographie
- Erschienen: 04.12.2014
- Label: MFA+
- Spielzeit:
60 Minuten auf 1 DVD - Mitwirkende:
Arno Schmidt
Alice Schmidt
Jan Philipp Reemtsma
Uwe Timm
Mechthild Großmann
Wenzel Storch
Marie Darieussec
u.a.
- Regie: Oliver Schwehm
- Kamera: Benno Soukup
- Extras:
Auf DVD
Interview mit Jan Philipp Reemtsma
Interview mit Wenzel Storch
Trailershow
(insgesamt ca. 75 Minuten)
Zusätzlich zur DVD
6 Postkarten
Booklet, 52-seitig
- Technische Details (DVD)
Video: 16:9 (1,78:1)
Sprachen/Ton: Deutsch, DD 2.0 - FSK: 0
- Sonstige Informationen:
Limitierte Sonderausgabe
Produktseite beim Filmlabel
Erwerbsmöglichkeiten
Diese Dokumentation wurde anlässlich des 100.
Geburtstags Arno Schmidts, welchen der 1979
gestorbene Autor am 18. Januar 2014 gefeiert
hätte, auf arte ausgestrahlt.
Wertung: 12/15 dpt