Gänzlich unaufregend ist Sheila Gowers Leben. In der Schule wurde sie bereits früh zum unauffälligen Außenseiter, die Familie will “nur ihr Bestes”, doch Sheila selbst fühlt sich lediglich in ein Standardleben gepresst, das ihr so gar nicht behagt. Und dieser ganze Alltag ereignet sich obendrein im stinklangweiligen Iowa. Ihr Traum, irgendwann nach Paris aufzubrechen, halten Mom und Dad für Spinnerei. Dennoch bemüht sie sich, ihren Traum zu verwirklichen, und so jobbt sie nebenbei an einer Tankstelle – das ist ebenfalls alles andere als aufregend, aber jeder Dollar bringt sie immerhin näher an ihr Ziel. In den ruhigen Phasen hat die Siebzehnjährige zudem hinter der Theke Zeit, an ihren Französischkenntnissen zu arbeiten, indem sie ihren CD-Sprachkurs laufen lässt. So recht anvertrauen möchte sie sich niemandem – und so ist ihr einziger Zuhörer ein ausgestopfter Kojote im ortsnahen Naturkundemuseum. Gut, ihr Mitschüler Anthony ist zumindest so etwas wie ein Kumpel.
In letzter Zeit taucht immer wieder ein Mann in den Mittzwanzigern auf, dessen Verhalten sie zuweilen befremdlich findet – direkt, dreist und mitunter einfach nur noch frech. Und: Er scheint stets vorauszuahnen, was sie vorhat. Sein Name: Peter Parker, genau wie Spider-Mans Alter Ego. Auch er hat einen Plan: Jemanden in Chicago zu finden und zu treffen. Er schlägt ihr vor, einfach alle Brücken hinter sich abzubrechen und das alte Leben ein altes Leben sein zu lassen. Sheila – in Peters Augen “seine” Gwen Stacy (wem der Name nicht geläufig ist: hier handelt es sich um Spider-Mans erste Liebe, dessen Geschichte tragisch endete) – zögert nicht lange, und so täuschen die beiden eine Entführung vor.
Peter und Gwen/Sheila – sie lebt sich immer mehr in ihre fiktive Rolle ein – lassen sich aufeinander ein und begeben sich auf eine sonderbare Reise, deren Anfang harmlos anmutet, doch es kommt nicht nur Romantik auf – denn ihre Flucht vor der Vergangenheit lässt ihre inneren Ichs miteinander kollidieren und bringt sie in gefährliche Situationen. Eigenartig dabei: Immer wieder träumt Peter das, was Gwen in absehbarer Zeit passieren könnte, ein Stückweit voraus – was alles nicht gerade einfacher macht…
Dieses etwas über dreihundertseitige, in drei Teile unterteilte Buch spricht eine direkte, aber dennoch erzählerisch reichhaltige Sprache und wechselt hierbei kapitelweise von Protagonist zu Protagonist – während die mit einem Eiffelturmpiktogramm versehenen Kapitel Sheilas Perspektive – wie alle anderen Perspektiven auch in der dritten Person erzählt – präsentieren, sind Peters Kapitel mit einem Spinnennetzpiktogramm versehen – und etwas später, etwa in der Buchmitte, gesellt sich eine weitere wichtige Figur mit ebenfalls eigenem Piktogramm hinzu, sodass man bereits jeweils zu Anfang des Kapitels weiß, wohin die imaginäre Kamera nun schwenkt.
Das Cover des Sarah Bruni-Debüts “Die Nacht, als Gwen Stacy starb” ist recht irreführend, denn so verträumt und – pardon! – kitschig wie das Motiv ist das Buch selbst zu keiner Zeit. Ohnehin ist dieses Werk recht unkonventionell, denn im Grunde ist es mehr ein literarisches Roadmovie mit zum Teil schwierig zu ergründenden Wendungen und Stimmungswechseln und äußerst metaphorisch geprägten Momenten – fast erscheint es so, als legten sich die geschriebenen Worte selbst ein Alter Ego zu.
Ab und zu liest man dieselbe Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und manchmal ereignen sich sogar Zeitsprünge, sodass jeder Freund des linearen Lesens hier wohl eher Schwierigkeiten haben dürfte, der Geschichte zu folgen – ist man aber gewillt und in der Lage dazu, diese Erzählmethode so zu nehmen, wie sie ist, wird man am Ende feststellen, dass eine andere Methode gar nicht möglich gewesen wäre, da die Story nur so einigermaßen Sinn ergibt und die Gründe, weshalb wer was tut, erst hierdurch für den Leser sichtbar an die Oberfläche dringen.
Man könnte es zuweilen verwirrend nennen, man könnte kritisieren, dass vieles unklar bleibt, doch man kann die offen gebliebenen Fragen, die nach dem Zuklappen des Buches definitiv im Raum stehen, durch den gleichzeitig gebotenen Interpretationsfreiraum ganz für sich selbst beantworten. So grübelt der Beobachter noch eine ganze Weile und versucht retrospektiv in die jeweiligen Köpfe der Figuren einzutauchen.
Wenngleich sich der Roman trotz seiner eigenartigen Struktur flüssig und schnell lesen lässt, ist er eine kleine Herausforderung. Als Leser sollte man durchaus eine Vorliebe für Literatur jenseits des Mainstream mitbringen, ebenso darf nicht erwartet werden, dass sich der Kreis am Ende wirklich schließt. Und trotz der Kategorisierung seitens des Verlags ist Vorsicht bei der Schubladisierung geboten – denn “Die Nacht, als Gwen Stacy starb” ist kein herkömmliches Jugendbuch. Lediglich die Hauptfiguren sind jung bis sehr jung – doch viel muss das nicht heißen.
Alles in allem debütiert die New Yorkerin Sarah Bruni beeindruckend, und man darf gespannt sein, was sonst bald noch so aus der Feder der jungen Frau mit den wilden Locken fließen wird.
Cover © script5
- Autor: Sarah Bruni
- Titel: Die Nacht, als Gwen Stacy starb
- Originaltitel: The Night Gwen Stacy Died
- Übersetzer: Usch Pilz
- Verlag: script5
- Erschienen: 03/2014
- Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 320
- ISBN: 978-3-8390-0162-2
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Wertung: 12/15 dpt