John Garth – Tolkien und der Erste Weltkrieg (Buch)


John Garth-Tolkien und der Erste Weltkrieg Cover © Klett-Cotta Verlag“Der Herr der Ringe” – eine Allegorie auf den Krieg?

[pullquote]» 1918 waren alle meine guten Freunde tot, bis auf einen. «
[S. 27, ein Tolkien-Zitat aus dem Vorwort der zweiten Ausgabe von “Der Herr der Ringe”][/pullquote]Diese Frage wird immer wieder unter den Liebhabern der tolkienschen Literatur in Internetforen diskutiert. Einige postulieren, die Orks oder gar Sauron stünden stellvertretend für die Nazis. Tolkien selbst hat derartige Allegorien stets abgestritten, und doch erscheinen vielen seiner Fans die Parallelen der Handlung zum Kriegsgeschehen im frühen 20. Jahrhundert offensichtlich.

Bereits 2004 schrieb der Journalist und Autor John Garth das Sachbuch “Tolkien and the Great War”, für welches er fünf Jahre lang recherchierte und das Antworten auf derlei Fragen versprach. Zehn Jahre später veröffentlichte Hobbit-Presse/Klett Cotta die deutsche Übersetzung.
Um es vorweg zu nehmen, der Leser erfährt in “Tolkien und der erste Weltkrieg” sehr viel mehr als nur, welchen Einfluss Tolkiens Zeit im Krieg auf seine Mythologie hatte. In dieser Hinsicht ist der Titel des Buchs etwas irreführend.
 
Tolkiens literarisches Werk vor dem Krieg

Das Buch ist in drei Teile eingeteilt, die in chronologischer Folge über Tolkiens Leben und Schreiben berichten. Teil I, “Die unsterblichen Vier”, beginnt mit dem Kapitel “Davor”. Es erzählt über Tolkiens Zeit an der King Edwards School in Edgbaston/Birmingham, wo er nach dem Tod seiner Eltern unter der Vormundschaft von Pater Francis Morgan lebte. Der dort gegründete Club TCBS (Tea Club and Barrovian Society) bestand aus insgesamt neun Schülern. Doch Christopher Wiseman, Geoffery Bache Smith und Robert Smith sollten Tolkien lange Jahre begleiten und maßgeblichen Einfluss auf sein Werk haben. Der TCBS war ein Debattierklub von literarisch und künstlerisch ambitionierten Schülern, die das hehre Ziel verfolgten, mit ihrem Werk die Welt zu einem schöneren Ort zu machen.

Vor dem Krieg hatte sich Tolkien der Lyrik verschrieben und begann mit seinem Handbuch für die Sprache Quenya, aus der sich seine vielen Völkersprachen (Goldogrin/Noldorin = Gnomisch bzw Sindarin als Gemeinsprach der Elben) entwickeln sollten. Garth führt den Leser in Mechanismen der Sprachentwicklung ein wie Lautverschiebung, Variation von Wortendungen und Extrapolation von ‘verlorenen’ Wörtern aus verwandten Sprachen. Tolkiens Methoden aus dem Bereich der Philologie und Linguistik, sowie die Einflüsse alter Sprachen, vor allem germanischen, nordischen und keltischen Formen, werden über Seiten beschrieben und analysiert.
Zudem  präsentiert der Autor Auszüge aus einigen von Tolkiens Gedichten dieser Schaffensperiode mit deutlich melancholischem Klang. Tolkiens enge Freunde befanden sich bereits mitten im Kriegsgeschehen, doch J.R.R. entschied, zuerst seinen Studienabschluss zu machen.

Der große Krieg

[pullquote]»In Ost und West auf vergessenen Feldern
Bleichen die Knochen der erschlagenen Gefährten,
Hübsche Burschen und tot und verfault;
Keiner der geht, kehrt wieder zurück.«
[S.49, A.E. Houseman, “Ein Junge aus Shopshire”, 1896, in deutscher Übersetzung][/pullquote]

Teil II, “Ungezählte Tränen”, leitet mit dem Kapitel “Rittersporn und Glockenblumen” den Teil des Buchs ein, in welchem es hauptsächlich um Geschehnisse an der Westfront geht. Sowohl J.R.R. Tolkien, als auch seine Freunde G.B. Smith und Rob Gilson kämpften hier einen blutigen Kampf um “ein paar Morgen Schlamm” [u. a. S. 422] an der Somme in Frankreich.
Künstlerisch war diese Zeit, in der Tolkien als Fernmelder eingesetzt war, nicht sehr ergiebig, obwohl er zwischen Kampfeinsätzen Gedichte verfasste und auch die Arbeit am Quenya Lexikon fortsetzte. In diesen düsteren Kapiteln erfährt der Leser, an welchen zermürbenden und gefährlichen Einsätzen die Freunde des TCBS teilnahmen und wie mühsam sie den Kontakt zueinander aufrecht erhielten Sich gegenseitig Trost spendeten und kontrovers über die Rolle des TCBS diskutierten, als der erste von ihnen, G.B. Smith, fiel.

Garth berichtet über die Erlebnisse und Bewegungen der TCBS-Kameraden an der Somme erstaunlich detailgetreu. Man kann nur erahnen, wie viel Recherchearbeit mit Kriegstagebüchern, persönlichen Tagebüchern und Briefen, militärischen Akten und sonstigen Dokumenten der Autor verbracht hat, um eine beinahe vollständig wirkende Abfolge der Ereignisse wiedergeben zu können. Hier beweist der Autor zudem Erzähltalent, denn diese Schilderungen nehmen uns mit in die Grausamkeit des Kriegs, lassen uns die Trauer und Verzweiflung der Soldaten spüren. Das gelingt Garth ohne Pathos, einfach nur, indem er aus den Quellenangaben eine mitreißende Story formt.
 
Veränderungen in Tolkiens Literatur nach dem Krieg   

Die abschließenden Kapitel in Teil III, “Die einsame Insel”, Nachwort und Epilog beschäftigen sich mit den Veränderungen in Tolkiens literarischem Werk, welche letztendlich zu dem Ergebnis führten, das wir als “Der Hobbit” und “Der Herr der Ringe” kennen.
Tolkiens wechselte zur Prosa und schrieb sein Werk etwas marktgerechter. Aufgrund einer Fiebererkrankung kehrte Tolkien früh aus dem Krieg zurück, schrieb an “Verlorene Geschichten” und erweiterte seine Sprachen. Hier verdeutlicht der Autor noch einmal, wie komplex sich die Entwicklung von Tolkiens Literatur gestaltete. Es gibt keine einfachen Antworten darauf, inwieweit zum Beispiel das Böse in Tolkiens Büchern dem Feind oder dem Teufel entspricht.

Ein Sachbuch richtet sich naturgemäß an ein fachlich interessiertes Publikum. Daher ist ganz besonders eine Sachbuchkritik die Antwort auf die Frage schuldig, für welche Leser das Sachbuch nun geeignet ist, und für welche eher nicht. Ein wenig Interesse oder Neugier für Linguistik und Philologie sollte der Leser für “Tolkien und der Erste Weltkrieg” schon mitbringen, denn der Autor präsentiert eine ausführliche Analyse der Sprachenschöpfungen Tolkiens.   

Wer aufgrund des Titels die biographische Version eines Romans wie Erich Maria Remarque “Im Westen nichts Neues”  erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Denn lediglich der Mittelteil des Buchs beschäftigt sich mit Tolkiens Zeit als Offizier im Ersten Weltkrieg. Sie ist zwar ein zentraler Aspekt, aber bei weitem nicht der einzige, den Garth unter die Lupe nimmt.
Ein wesentlicher Einfluss auf Tolkiens Mythologie ging von seinen Freunden im TCBS Club aus. Wir erfahren, was die Club-Mitglieder miteinander verband und warum sie so wichtig für Tolkien waren.

Tolkiens Mythologie wurde von Idealen geprägt, die zwar in den Grundzügen gleich blieben, aber dennoch dem Zeitgeist unterworfen waren.
Anhand zahlreicher Beispiele erläutert der Autor, was sich als Hintergrund zu Tolkiens literarischer Welt nachweisen lässt. Und er lässt Hypothesen als solche stehen, wenn das Quellenmaterial keine eindeutige Schlussfolgerung zulässt. Wer also Tolkiens Werk liebt und fundiert darüber informiert werden möchte, was sich wirklich hinter den öffentlich diskutierten Einflussfaktoren auf sein Werk verbirgt, der sollte “Tolkien und der Erste Weltkrieg” lesen und kann sich auf eine so interessante wie spannende Lektüre freuen.

Cover © Klett-Cotta

  • Autor: John Garth
  • Titel: Tolkien und der Erste Welrtkrieg
  • Originaltitel: Tolkien and the Great War
  • Übersetzer: Birgit Herden und Marcel Aubron-Bülles
  • Verlag: Klett-Cotta
  • Erschienen: März 2014
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 464
  • ISBN: 978-3-608-96059-4
  • Sprache: Deutsch
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite beim Klett-Cotta Verlag

    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 12/15 dpt


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