Die Frage, die sich bei Lee Childs Jack Reacher-Reihe stellt, ist mittlerweile nicht mehr das “Was wird erzählt” sondern das “Wie”.
Wie gelingt es Child, die bekannte Ausgangssituation (Streuner macht Halt in einem kleinen Ort, gerät in eine Schlägerei, stößt auf Ungerechtigkeiten/Verbrechen und initiiert so tat- wie schlagkräftig deren Beseitigung – meist inklusive der jeweiligen Verursacher) lesenswert zu variieren? Immerhin ist “Wespennest” bereits der fünfzehnte Band der Serie. Reacher stößt auf einen Fall von häuslicher Gewalt, konfrontiert den vermeintlichen Verursacher handgreiflich damit, setzt gleich noch zwei unbeholfene Bodyguards außer Gefecht, und gerät so ins Visier einer kleinen, aber mächtigen Sippe von Transportunternehmern, die ihm eine tödliche Lektion erteilen wollen. Die Erfahrenen unter den Lesern wissen natürlich, dass derartige Versuche schnell zum gewalttätigen Umkehrschluss führen.
Diesmal gibt es jedoch ein winziges Fragezeichen, denn Reacher ist nach seinem explosiven Ausflug in die arktische Kälte South-Dakotas (nachzulesen in “61 Stunden”) körperlich lädiert und wird im wenig heimeligen Nebraska nur wenig Schlaf abbekommen. Zusätzlich erweitern sich die Fronten, an denen er kämpfen muss, da die Gebrüder Duncan und ihr Ziehsohn Seth weit mehr Dreck am ländlichen Stecken haben als ein erpresserisches Fuhrunternehmen. So machen diverse Zweierteams konkurrierender Angehöriger des organisierten Verbrechens ebenfalls Jagd auf Jack Reacher. Harte Zeiten für alle Beteiligten.
Vorneweg: “Wespennest” ist wieder ein Seiten- und Zeitfresser erster Güte. Der für Lee Child typische Stakkato-Stil, wechselt sich ab mit längeren, beschreibenden Passagen. Rhythmuswechsel, die dem Roman gut tun.
Wie Reacher rennt, rettet, flüchtet, Haken schlägt, Knochen bricht und für Gerechtigkeit und eine gewaltige Zäsur sorgt, ist von gewohnt hohem Spannungsgehalt. Auch wenn die elliptische Erzählweise – Sniper legt sich gleich zu Beginn auf die Lauer, um erst gegen Ende auf Reacher zu treffen – vorhersehbar ist, und die perversen Verbrechen der Duncans so plakativ wie wenig glaubwürdig aufbereitet und von Reacher folgerichtig erschlossen werden. Doch darauf kommt es nicht an.
Im Zentrum steht der Gerechtigkeitsfanatiker Reacher, dem jedes Mittel recht ist, Schuldige zu bestrafen. Ein Jesus von geradezu alttestamentarischer Wucht, dem es nicht darum geht, Jünger um sich zu sammeln, sondern eine Anleitung zu mehr Selbstbewusstsein, Solidarität und Widerstand zu geben. Einer Gruppe von Unterdrückten zeigt er Möglichkeiten auf, sich aus der Umklammerung ihrer Peiniger zu befreien. Mehr als einmal wird die Fabel vom Frosch zitiert, der nicht merkt, dass er zu Tode gekocht wird, wenn man das Wasser langsam erhitzt. Reacher fordert seine erst ängstlichen, dann loyalen Begleiter auf, sich ihrer gemeinschaftlichen Stärke bewusst zu werden und aufzubegehren. Er selbst gibt den deutlichen Anstoß dazu.
In diesen Momenten gleicht Reacher keinem selbstjustizgeilen Redneck, sondern tritt eher auf wie ein linksorientierter Aktivist, der weiß, dass eine Revolution eine blutige Angelegenheit ist. So konsequent zerstörerisch wie im vorliegenden Buch ist Jack Reacher bislang selten vorgegangen. Hier bricht er hilflosen Handlangern die Knochen, damit sie in Zukunft nicht mehr auf dumme Ideen kommen. Wenn er es einmal nicht tut, wird ihm dies nicht gedankt.
Glücklicherweise sind die bösen Buben nicht sonderlich helle und außerdem missgünstig, sodass Reacher selbst dann noch überlegen bleibt, wenn er zerschunden am Boden liegt. Im günstigsten Fall schalten sich seine Gegner gegenseitig aus. Dank Reachers durchtriebenen Plänen, aber mitunter auch ohne tätige Mithilfe.
Dabei schwebt über dem Roman eine große Traurigkeit, die aus dem Wissen resultiert, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können. Ein Spiel um und mit Macht, das überall betrieben wird, egal wohin es Jack Reacher verschlägt. Angesichts dessen wandelt sich die Figur langsam vom Heilsbringer zum Sisyphos, der intuitiv weiß, dass auf jeden Kriminellen, den er über die Klippen schickt, im nächsten Kaff zehn weitere warten. Mehr als einen Stoßseufzer ist das Reacher diesmal wert, auch wenn für die Gemeinschaft des Ortes, den er gerade verlässt, am Ende ein vorsichtiger Hoffnungsschimmer scheint. Doch den sieht Reacher bereits nicht mehr.
In den kommenden Bänden scheint die Frage nach dem “Wie” jedoch in den Hintergrund zu rücken. Denn als nächstes begibt sich Lee Child mit seinem Protagonisten zurück ins Jahr 1997, in eine Zeit, als Reacher noch Soldat war, danach heißt es “Hit the road, Jack”, und schließlich landet Reacher wieder (unfreiwillig?) beim Militär. Immerhin ist er seit dem Ende von “61 Stunden” auf dem Weg zu seiner ehemaligen Dienststelle, um die anheimelnde Telefonstimme Susan Turner leibhaftig kennen zu lernen. Es reizt ihn ungemein zu erfahren, wer den Platz an seinem krüppeligen Schreibtisch eingenommen hat.
So heißt es wie im Abspann jeder James-Bond-Verfilmung: Jack Reacher will return in “The Affair”. Und ein paar Kurzgeschichten dienen als Zwischenmahlzeiten. Es bleibt spannend mit dem trampenden Einzelgänger, der am Ende von “Wespennest” sogar lächelt und sich bemüht, “freundlich auszusehen”. Mehr kann man kaum erwarten.
Cover © Blanvalet Verlag/Random House
- Autor: Lee Child
- Titel: Wespennest
- Teil/Band der Reihe: 15
- Originaltitel: Worth Dying For
- Übersetzer: Wulf Bergner
- Verlag: Blanvalet
- Erschienen: 19.04.2014
- Einband: Hardcover
- Seiten: 446
- ISBN: 978-3-7645-0419-9
- Sprache: Englisch
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 11/15 dpt
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