Saša Stanišić – Vor dem Fest (Hörbuch, Autorenlesung)

sasa-stanisic-vor-dem-fest-hoerbuch-der-hoerverlagEs gibt (Hör-)Bücher, die vereinnahmen. Die das Gehirn mit Informationen bombardieren und den Leser respektive Hörer hinterher mit zahlreichen Gedankenfetzen zurücklassen, welche sich wie von alleine zusammenfügen – wie ein Scherbenhaufen, der sich durch das Rückwärtsabspielen in Slow Motion wieder zu einem Ganzen zusammenfügt, zu einem rezensionsförmigen Abbild des Titels. Es gibt jene Werke, die dermaßen reichhaltig und eindrucksvoll sind, dass sie ob ihrer Nachhaltigkeit den Denkapparat nicht nur für eine ganze Weile beschäftigen, sondern die Gedanken des Denkapparatbesitzers gnadenlos besetzen, gar belagern, temporär mit anderen Daten überschreiben. Eines jener Werke ist Stanišićs vorliegender zweiter Roman – und zwar in beiderlei Hinsicht.

In selbigem entführt uns der Autor in das fiktive uckermärkische Dorf Fürstenfelde. Unterschiedlichste, zuweilen verschrobene Menschen erleben die letzten Stunden jenes Tages, welcher vor dem für das Dorf sehr wichtigen Annen-Fest liegt. Der alte Herr Schramm,  »ehemaliger Oberstleutnant der NVA, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz bei Von Blankenburg Landmaschinen« ist mit einer ebendieser Maschinen zum Zigarettenautomaten gefahren und hadert nun mit sich, weiß nicht, ob er sich nun entweder eine Kugel in den Kopf jagen oder doch nur Zigaretten kaufen soll. Und dann taucht zu allem Überfluss auch noch die junge Anna bei ihm auf. Die nachtblinde, neunzigjährige Frau Kranz hingegen versucht verzweifelt, das Dorf bei Dunkelheit auf Leinwand zu bannen. Der Glöckner dieses niemandsländischen  Orts möchte derweil mit seinem ungläubigen Lehrling Johann, dem Sohn der ihrem Namen alle Ehre machenden Frau Schwermuth, die festlichen Glocken läuten lassen, doch die Glocken, die sie dafür benötigen, sind gestohlen worden. Die jugendlichen Menschen dort (Meerrettich-Micha, der stille Suzi und weitere) gehen ihren ganz eigenen Geschichten nach, während ein reichlich genervter Bauer von einem Alaskaurlaub träumt. Als letzter Anker für die den Alkoholika nicht Abgeneigten gilt Ullis alte Garagenkneipe, wo getrunken und gescherzt wird, bis der Kopf auf die Tischplatte knallt. Und dann wäre da noch die Fähe, die für ihre Jungen auf der Suche nach Eiern ist. Und was ist mit dem Fährmann? Der ist tot und kann sein Leben nicht mehr selbst Revue passieren lassen.

Der Hörer wird somit Beobachter diverser, permanent wechselnder Szenarien und erlebt unzählige Protagonisten in ihren Gedanken und in ihrem Tun, und ebenso taucht man in Geschichten der einzelnen lebenden und toten Personen ab, in Geschichten und Legenden dieses typischen “Nach der Wende”-Dorfes selbst, die viele Jahrhunderte zurück liegen – und so geschieht es nicht selten, dass sich Zeitsprünge vom Jetzt bis in das 16. Jahrhundert ereignen. Der Autor erzählt hierbei teilweise in der Wir-Form, teilweise aus infantil-visuellen Beobachtungen heraus, und zu jeder Epoche, zu jedem Protagonisten, zu jeder Situation findet Stanišić den angemessenen Wortschatz – die altertümlichen Passagen werden mit entsprechendem Vokabular und entsprechenden Formulierungen abgehandelt, und sobald es in das Heute oder andere Zeiten springt, passt sich die Sprache jeweils an.

Stanišić gelingt es exzellent, das Dorf und dessen Leben in einer Art Schnelldurchlauf zu präsentieren, und obwohl “Vor dem Fest” unfassbar vollgepackt mit Informationen ist und durch sein multiprotagonistisches und multiperspektivisches Dasein enorm komplex und verschachtelt erscheint und die Fäden nur müßig, gar zagahft zusammenlaufen, lässt sich dieser Roman nahezu problemlos am Stück verarbeiten. Die Art und Weise, wie der Autor erzählt, ist äußerst vereinnahmend, was primär daran liegt, dass Stanišić dem Dorf echtes Leben mit authentisch wirkenden, charakterstarken Menschen einhaucht, und selbst Gegenstände, Ereignisse und bestimmte Plätze und Stellen in jenem Örtchen bekommen durch die präzisen, mit einer wohligen Wärme erzählten Schilderungen  ihre ganz eigene Ausstrahlung verliehen.

Bedenkt man, dass der 1978 in Višegrad (Bosnien-Herzegowina) geborene Schriftsteller erst 1992 – mit seinen Eltern auf der großen Flüchtlingswelle reitend – nach Deutschland kam, ist es faszinierend, mit welchem Mut und mit welcher Virtuosität er dieses sprachlich so vielseitige kleine Meisterwerk erschaffen hat, vor allem aber auch, mit welcher Selbstverständlichkeit er hierbei zu Werke ging. Auch die Art und Weise, wie der Autor die einzelnen Fäden zusammenhält, lässt staunen. Liest man sich so durch den Literaturkritikerdschungel, liest man von einem »Sprachfest« (Quelle: literatourismus.net), und in der Begründung, weswegen man dem Autor 2014 den Leipziger Buchpreis in der Kategorie Belletristik verliehen hat, heißt es, er kreiere ein »Dorf aus Sprache« (Quelle: diese Pressemitteilung), und es fällt demnach schwer, all den euphorischen Stimmen noch etwas hinzuzufügen, da nahezu alles gesagt ist.

Faszinierend bei alledem ist, dass Saša Stanišić diesem erdachten Dorf eine ebenso erdachte Geschichte auf dessen Leib und in dessen Seele schreibphantasiert und dem Leser beziehungsweise Hörer so suggeriert, dass alles genau so hätte geschehen können. Wüsste man es nicht besser, würde man Stanišić das Geschriebene gar glauben – er erschafft ein literarisches und historisches Paralleluniversum in Staubkorngröße, erweckt dieses verschlafene Örtlein zu seinem ganz eigenen schrullig-verschrobenen und doch so normalen und glaubwürdigen Leben, sodass es unmöglich wird, sich dem beeindruckenden Erzähltalent zu entziehen. Nicht selten stellt man sich vor, wie der Autor irgendwann greis in seinem Sessel sitzt und seinen Enkeln und Urenkeln auf genau dieselbe Weise seine Lebensgeschichte erzählt. Und der Nachwuchs sitzt im Schneidersitz auf dem Teppich, das schummrige Licht spiegelt sich in  glänzenden Augen, welche den Blick gebannt auf ihren Großvater und Urgroßvater heften und an dessen Lippen hängen.

Was sich bereits in gedruckter Form stellenweise gegen jedwede Konvention sträubt, ist auch in Hörbuchform ein kleines Erlebnis. Zum einen kann der Hörer durch verschiedene Aufnahmearten sehr gut zwischen den einzelnen Fragmenten und deren zeitlicher respektive geschichtlicher Herkunft unterscheiden. Da erscheint die Stimme hier näher, dort weit weg, in manchen Passagen klingt sie “alt” wie ein vergilbtes Schriftstück, dann wieder nach “heute”, und nicht selten geht man dabei äußerst experimentelle Wege, die sich dem Hörer allerdings spätestens dann erschlossen haben, wenn sie komplett zurückgelegt wurden.

Der slawisch-štokavische Akzent Stanišićs setzt der textlichen Sonderbarkeit dieses Hörbuchs die akustische Krone auf – es bedarf durchaus einiger Gewöhnung, bis man sich an die Aussprache des gebürtigen Südosteuropäers gewöhnt hat – doch letztendlich sorgt gerade diese Eigenheit für das gewisse Etwas, für den Zauber des Ganzen, denn spätestens nachdem die letzten Sekunden verklungen sind und sich die Hörschneeflocken  in der zerebralen Schneekugel auf dem Boden abgesetzt haben, muss man feststellen: Etwas anderes als eine Autorenlesung hätte gar nicht in Frage kommen dürfen.

Vielen Dank, Herr Deutschlehrervomsaša, dass Sie dieses Talent wahrgenommen und mit Ihrer initialen Förderung somit das Fundament für eine der größten literarischen Hoffnungen für die Zukunft erschaffen haben.

 Cover © der Hörverlag

Wertung: 14/15 dpt

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