»Reden ist wie sterben« – Reden und erklären: Das sind die Versuche, die Natur zu verstehen, indem ihr eine Kultur des Erklärens in Form von Mythen oder Wissenschaft gegenübergestellt wird. Doch um wieviel reicher die Natur ist, und dass vor ihr menschliche Wissensschätze grandios scheitern müssen – das ist eine der vielen Geschichten, die François Garde in seinem Debüt-Roman “Was mit dem weißen Wilden geschah” erzählt. Die andere Geschichte – der Plot – hat drei Protagonisten: Die Kolonialisierung, um nicht zu sagen, die Hoch-Zeit dessen, was heute Globalisierung genannt wird, den Matrosen Narcisse Pelletier und den Wissenschaftler und Anthropologen Octave de Vallombrun. Pelletier befindet sich 1843 an Bord eines Erkundungsschiffes und wird während eines Land- und Erkundungsgangs in Australien zurückgelassen. Ob dies willentlich oder unabsichtlich geschah, das kann und will der Autor nicht klären. Doch Narcisse ist von nun an ein Gefangener des neuen Kontinents, während die Mannschaft seines Schiffes in Frankreich von seinem tragischen Tod berichtet. Als er siebzehn Jahre später vom Anthropologen Octave de Vallobrun inmitten eines Aborigines-Stammes aufgefunden wird, wird Narcisse, der sich inzwischen voll in die neue Heimat und die wilde Natur Australiens integriert hat, abermals seiner Wurzeln entrissen und zurück nach Frankreich verschifft, um von nun an Octave als Untersuchungsgegenstand zu dienen.
Diese Geschichte, deren Ende durchaus absehbar ist, erzählt François Garde auf Basis eines tatsächlich realen Vorfalls abwechselnd aus den Perspektiven Narcisses und Octaves. Besonders eindrucksvoll gelingt es ihm, die anfängliche Verzweiflung Narcisses zu beschreiben, die mehr und mehr einer erst aufgezwungen, dann gelebten Integration weicht. Zunehmend verliert Narcisse sein Reflexionsvermögen oder besser gesagt, den Drang, seine Situation, die er als fremd, abstoßend und unfreundlich erlebt, zu reflektieren. Nach siebzehn Jahren, kurz bevor er von den französischen Wissenschaftlern aufgefunden wird, scheint er mit sich und seiner Umwelt völlig im Reinen zu sein. Mit dem Auffinden Narcisses und dem Plan Octaves, ihn zurück ins “gelobte” und “geliebte” Frankreich zu führen, beginnt nicht nur das erneute Martyrium Narcisses, sondern auch eine glänzend konstruierte und entwickelte Wissenschaftskrise. Ist Octave zu Beginn noch mehr als zuversichtlich, das einzig Richtige zu tun und den verlorenen Sohn zurück in die einzig wahre Kulturlandschaft zu bringen, mischen sich in seinen Briefen mehr und mehr Zweifel, ob das, was er da tut, wirklich zum Wohle Narcisses geschieht. In der Konfrontation mit Narcisse, der das dünne Kleidchen westlicher Zivilisation und Kultur abgeworfen hat, erblickt Octave nichts weniger als die Hybris seines globalisierenden und kolonialisierenden Denkens, das sich dann jedoch mehr und mehr einer gänzlich unwissenschaftlichen Empathie öffnet.
Nun soll das Ende nicht vorweggenommen werden – man wird es sich wohl denken können, doch, was Garde mit seinem Roman gelingt, mag auf der primären Handlungsebene eine zwar solide, doch schon oft gelesene Abenteuergeschichte sein. Aber die Kunstfertigkeit und die Konzeption dieses Romans, eröffnen dem geneigten Leser eine Vielzahl an Diskursen. Das wären zunächst einmal die immer wieder eingestreuten Verweise auf Hegels “Phänomenologie des Geistes”. Garde dekliniert Hegels Systematik von der Sinnliche Gewissheit bis hin zum absoluten/absolutistischen Weltgeist und wieder zurück. Und damit ist dieser Roman nicht nur eine Abenteuergeschichte, sondern auch ein Bildungsroman und gleichzeitig die Zurücknahme desselben. Es ist aber auch ein Wissenschaftsroman, der die Wissenschaft an den Klippen der Familie grandios zerbersten lässt und es ist ein Heimkehrer-Roman. Vielleicht hat François Garde seinen Roman etwas zu sehr überfrachtet und zu sehr konstruiert – doch die hohe erzählerische Kraft macht dieses vermeintliche Manko wieder wett. Dramaturgisch genial lässt Garde seinen Helden Narcisse die Sprache wiederfinden – gebrochen, aber ausreichend genug, um Octave den so lebensklugen Satz entgegenzuschmettern <>. Ab diesem Punkt ist in diesem Roman nichts mehr wie vorher. Für den Leser ist diese Stelle ebenso bestürzend wie für Octave – und läutet eine Wendung ein, die dann durchaus Page-Turnereske Qualitäten entfaltet.
In Frankreich hat dieser Roman nicht nur den wichtigen Prix Goncourt gewonnen, sondern wurde mit sieben weiteren renommierten Preisen ausgezeichnet. Dies spricht nicht immer für die Qualität eines Romans, doch in diesem Fall sollten sich Kritiker wie Leser einig sein: François Garde ist mit “Was mit dem weißen Wilden geschah” ein wahrhaft spannender, reflexionsfreudiger Roman gelungen, der an einigen Stellen durchaus kunstvoll mit den Erwartungen seiner Leser Katz und Maus spielt und genau damit fasziniert.
Cover © C. H. Beck
- Autor: François Garde
- Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah
- Originaltitel: Ce qu’il advint du sauvage blanc
- Übersetzer: Aus dem Französischen von Sylvia Spatz
- Verlag: C.H. Beck Literaturverlag
- Erschienen: 01/2014
- Einband: Gebunden
- Seiten: 318
- ISBN: 978-3-406-66304-8
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 10/15 dpt