Manfred Geier hat sich in seinem neuen Buch den Geistesblitzen der Philosophie angenommen. Anhand von sieben Philosophen und deren persönlichen “Heureka!”-Momenten umreißt der Literaturwissenschaftler die abendländische Philosophiegeschichte von der Antike bis zur Moderne. Dabei liefert das Buch süffige biographische Passagen, schmackhafte Anekdoten und darin untergebracht, zarte bis mittelschwere, gute Einblicke in philosophische Grundgedanken. Das ist mit Sicherheit eine empfehlenswerte Lektüre, – abgesehen von der recht widersprüchlichen Grundidee, die der Autor seiner “anderen Geschichte der Philosophie” zugrunde legt. Aber diese liefert dem Leser eine hervorragende Steilvorlage zum Philosophieren.
Bei Sachbüchern über Philosophiegeschichte ist der Inhalt meistens weniger interessant als die Begründung seiner Auswahl und die Idee hinter seiner Darstellung. Manfred Geier pickt sich Parmenides, Descartes, Rousseau, Kant, Hamann, Nietzsche und Popper heraus, um deren Philosophie im Kontext ihres Lebens und der zeitgenössischen Philosophie vorzustellen. Zum einen verdeutlichten diese Denker die großen Themen der europäischen Philosophie wie etwa die Natur bei Rousseau oder das Leben bei Nietzsche. Gleichzeitig lasse sich an ihnen auch zeigen, dass die Philosophie keine unzusammenhängende Abfolge von Gedanken sei, sondern das alles von »persönlichen und sachlichen Beziehungen durchzogen sei«. So weit so gut. Das ist bekannt und legt sich nicht mit einem Novitäten-Nährwert auf die Hirnwindung. Dass Geier dann alles um die Geistesblitz-Momente herum aufbaut, begründet er im Vorwort wie folgt:
»Wer von Geistesblitzen reden will, muss sich auf einzelne Personen und ihre individuellen Lebensgeschichten konzentrieren. Die bloße Darstellung der neuen Ideen, mit dem argumentativen Dafür und Dagegen, genügt nicht, um begreifen zu können, was in diesen außergewöhnlichen Momenten geschieht und warum es sich ereignet. Textverstehen muss mit Personenverstehen zusammengehen.«
Bei diesem Absatz jedoch beginnen all diejenigen, denen der Wissenstrichter kanonischer Philosophiegeschichte bereits eingestielt wurde, nervös im Lesesessel auf- und abzuwippen. Was hat der Mann dort gesagt? Die Philosophiegeschichte geschieht in außergewöhnlichen Momenten? »Das ist pure Mystik! Ein Meister Eckhart des einundzwanzigsten Jahrhunderts!« ertönt es aus den philosophischen Dachfenstern und unten auf der Straße kann man hören, wie Tabakspfeifen auf staubigem Parkett aufschlagen. Das Problem ist aber durchaus nachvollziehbar. Wenn die Abfolge philosophischer Gedankengebäude nicht mehr ist, als das Epiphanie-Erlebnis einzelner Personen, kann man auch gleich zu den Katholiken gehen und Heiligenkult betreiben. Zwar sagt Geier zu Beginn, dass der Geist der Philosophen ohne Gott auskommen muss, aber der mystische Geruch überfallsartiger Erkenntnismomente und die mystische Verklärung einzelner Philosophen bleibt bei dieser Grundidee dennoch erhalten.
Hier würde Geier den gesamten Inhalt seines Buchs dagegenstemmen. Denn der Geistesblitz beispielsweise bei Parmenides kommt nicht von ungefähr. Der Leser erhält zunächst Einblick in die Lehren Xenophanes, der Parmenides Lehrer war und für seinen Schüler eine Menge widerstreitender Thesen bereitstellte. Parmenides Geistesblitz war es nun, diesen Widerstreit zu harmonisieren. Was Geier im Folgenden anhand einer aufschlussreichen Interpretation von Parmenides Lehrgedicht “Über die Natur” vorstellt. Dadurch ist die Idee des Geistesblitzes historisch geerdet. Geier führt zu jedem Philosophen Vorgeschichte und eine philosophisch-systematische Problemstellung an, die es zu lösen gilt. Im Anschluss an diese Lösung folgt für die Denker meistens eine langwierige philosophisch-literarische Bearbeitungszeit, um ihren revolutionären Gedanken in bester Ausformulierung und großzügiger Überarbeitung zu Papier zu bringen.
Es kommt am Ende also nicht, wie es das Vorwort vermuten lässt. Philosophiegeschichte geschieht nicht oder ereignet sich nicht einfach. Auch die Philosophen erscheinen nicht als die musengeküssten Lieblinge der Wahrheit sondern als Diskursmenschen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und dabei eventuell einen psychotischen Schub erlitten. Bei Nietzsche und Rousseau liegt dieser Schluss nah. Das alles steht der Grundidee vom Geistesblitz irgendwie wieder entgegen, sodass man sich trotz einer wirklich gelungenen Zusammenführung von Theorie- und Lebensumständen fragen muss, was Geier damit eigentlich erreichen wollte. Denn auf eine wirklich relevante philosophische Überlegung, die die Titelgebung nahelegt, geht der Autor leider überhaupt nicht ein. Geistesblitze verweisen doch auch auf die pure Subjektivität von Wahrheit, die als ein persönliches, emotional überwältigendes Empfinden daherkommt. Es ist das, was Nietzsche der Wissenschaft und den Philosophen vorwirft und es ist das, was Descartes, der Vordenker moderner Wissenschaft und Logik!, immer wieder gefährlich streift: Wahr ist, was sich (für mich) wahr anfühlt. Von dieser irrationalen, gefühlsmäßigen Seite der (logischen, rationalen) Philosophie und ihrer Akteure handelt Geiers Buch eben nicht. Wer sich vom Titel geleitet, für diese wissenschaftskritische Problemstellung interessiert, dem sei mit der gebührenden philosophischen Skepsis eher Ernst-Peter Fischers “Die aufschimmernde Nachtseite: Kreativität und Offenbarung in den Naturwissenschaften” empfohlen.
Cover © rowohlt
- Autor: Manfred Geier
- Titel: Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie
- Verlag: rowohlt
- Erschienen: 09/2013
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 288
- ISBN: 978-3-498-02523-6
- Sonstige Informationen:
Erwerbsmöglichkeit
Wertung: 10/15 dpt