David Foster Wallace – Der bleiche König (Buch)


David Foster Wallace - Der bleiche König (Buch) Cover © Kiepenheuer & WitschDie Bleiwüste und ein Fingerhut voll Wasser

Ob der auf dem Buchcover prangende Terminus “Roman” bei David Foster Wallace’ finalem, unvollendetem Werk wirklich der passende ist, darf  – wie so oft bei seinen Veröffentlichungen – bezweifelt werden, denn “Der bleiche König” hat mit gewöhnlicher belletristischer Kost nur wenig zu tun und sperrt sich gegen jedwede Kategorisierung. Doch was die Werke des Ausnahmeautors, der sich 2008 freiwillig aus dieser Welt verabschiedete – möge er in Frieden Ruhen! -, betrifft und eint, so sind gerade die ausladenderen Stücke seiner Bibliographie oftmals ein Sprung vor das Dickicht, und die Klinge der Machete, die sich in des Lesers Hand befindet, ist noch stumpf. Sie zu schärfen bedarf einiger Zeit und des genauen Hinsehens, um Instrumente zur Schärfung der Klinge zu finden, und so müssen zu Beginn die Zweige, Äste und Blätter erst mit den bloßen Händen aus dem Weg geknickt und gerissen werden – auf die Gefahr hin, dass man sich an Dornen und Stacheln verletzen kann, wenn man den falschen Griff anlegt.

Zwar verlangen auch seine Essays wie beispielsweise “Am Beispiel des Hummers” oder seine vor Geisteswissenschaften-Absolventen des Kenyon College in Ohio vorgetragene Abschlussrede “This Is Water” des genauen Lesens und einer intensiven Verarbeitung, doch gerade sein über 1500-seitiges Werk aus dem Jahre 1996, “Infinite Jest”, riss in der Literatur zahlreiche Grenzen nieder, und nachdem es lange als unübersetzbar galt, wagte sich Übersetzer Ulrich Blumenbach dennoch an diesen beinahe monolithischen Wälzer und biss sich rund sechs Jahre lang die Zähne aus, bis im Jahr 2009 die deutsche Version “Unendlicher Spaß” erschienen war und somit das Meisterstück gleich zweier Personen war: Wallace und Blumenbach.

Das Zurückgelassene für die Zurückgelassenen

Wallace’ bevollmächtigte Vertreterin Bonnie Nadell sowie seine Witwe Karen Green übergaben dem Stammlektor Michael Pietsch riesige Stapel an Manuskripten, Notizen, Disketten, Heftern, Blöcken und Festplatten sowie einen ganzen Karton voller Bücher, die der Autor offenbar für Recherchen benutzt hat – und so konstruierte Pietsch anhand des verfügbaren Materials nach bestem Wissen und Gewissen und mit viel Empathie und Gefühl das, was “Der bleiche König” am nächsten hätte kommen können – ganz ungewiss dessen, ob das, was vorhanden war, nur ein kleines Fragment von etwas episch Großem gewesen sein mag, ob nur ein Drittel gefehlt haben könnte – oder ob gar nur ein paar Seiten vonnöten gewesen wären, um die Fäden an den richtigen Stellen zu fixieren. Denn wenn man bedenkt, welch undurchsichtig erscheinendes Puzzle gerade “Unendlicher Spaß” war, bei dem dem Leser ein lastwagenanhängergroßer, zu einem großen Teil aus Kleinteilen bestehender Bausatz vor die Füße geschüttet wurde und es ihm überlassen war, daraus sein eigenes Etwas zu konstruieren, liegt es nicht allzu fern, dass “Der bleiche König” ebenfalls eine Art Flickensammlung war,  mit dem Auftrag an den Leser, sich Nadel und Garn zu greifen und ein individuelles Stück Patchworkarbeit zusammenzufügen. Womit ein passenderer Terminus gefunden wäre: Arbeit. Harte Arbeit, erschaffen von David Foster Wallace. Schwerstarbeit einmal mehr für Ulrich Blumenbach – und letztendlich harte Arbeit für den Leser, dem das Gefühl mitgegeben wird, all das Bestehende in seinem Kopf zu finalisieren.

All die Farben in ihrer Buntheit gemischt…

In “Der bleiche König” entführt uns der Autor mit Ausnahme in Form kleiner Zeitsprünge und Rückblenden in die Mitte der 80er Jahre, in eine der ödesten, drögsten und langweiligsten Umgebungen, die man sich vorstellen kann, nämlich in ein Steuerprüfzentrum des IRS (Internal Revenue Service) in Peoria, Illinois, in welchem ausgefüllte Steuerformulare geprüft und bearbeitet werden. Wie in zahlreichen Wallace-Büchern bekommt der Leser auch hier keine wirkliche Handlung im herkömmlichen Sinne geboten, und auch echte Protagonisten wie in gewöhnlichen belletristischen Werken finden sich kaum. Vielmehr dreht sich der komplette, rund 600 Seiten schwere Backstein durchaus um diverse Hauptpersonen, die ihre eigene Geschichte mit sich tragen und irgendwann in der Steuerbehörde aufeinandertreffen, in welcher dann Arbeit und Gespräche stattfinden, doch wirklich fassen lässt sich in diesem anonym wirkenden Sammelsurium diverser Menschen in einem großen Gebäudekomplex nichts so wirklich.

Einen großen Teil des Buches nimmt Steuerprüfer und “Abschweifungskönig” Chris Fogle ein, der auf einem über einhundertseitigen Monolog von seinen psychedelischen Erlebnissen und seinen Eigenarten erzählt. Eine weitere Rolle nimmt Claude Sylvanshine ein, der während seiner monotonen Arbeit immer wieder seine Kollegen zu beobachten beginnt, dem Leser durch die Ausführlichkeit der Gedanken, Eventualitäten, Zweifel und Waswärewenns jedoch einen ausführlichen Einblick in seinen Kopf gewährt – hierbei verschachteln sich die Gedankengänge durchaus mal derart, dass ein einziger Satz sich über dreieinhalb Seiten erstreckt. Eine Frau namens Toni Ware hingegen erlebte eine heftige, abrupt endende Kindheit, die sie zu keinem besonders guten Menschen werden ließ.

Auch der Autor selbst begibt sich in komödiantisch angehauchter Form als David Wallace in diese Story hinein – ist jedoch nicht die einzige Person mit diesem Namen, denn die damals noch unausgereifte EDV sorgt in der riesigen Behörde für zahlreiche Verwechslungen, und man darf sich oftmals berechtigt unsicher sein, ob der Autor seinen Leser hier nicht bewusst an der Nase herumführt – denn zusätzlich zu seinen “eigenen” Erzählungen und Schilderungen jagt er den das Buch in den Händen Haltenden von Text zu Fußnote und wieder zurück zum Text, hin, her, hin, her, sodass dieser oftmals in hektisches Umherblättern verfällt, um dem Ganzen irgendwie folgen zu können – ein Stilmittel, das David Foster Wallace immer wieder gern angewandt hat.

…ergeben grau

Ferner verfolgen wir das schwierige Leben jungen David Cusk, der mit ungewöhnlich heftigen Schweißausbrüchen zu kämpfen hat und stets damit beschäftigt ist, diese irgendwie zu kontrollieren, wobei Angstverschachtelungen offenbar sein größtes Problem sind. Ein gewisser Lane Dean jr. kämpft hingegen mit herannahendem Familienglück, während ein anderer junger Mann seit dem Kindesalter einer doch sehr sonderbaren Obsession nachgeht, die ihm gesundheitliche Folgen beschert. In anderen Kapiteln – sämtlichen Kapiteln, wenn man sie überhaupt so nennen kann, sind Paragraphenzeichen vorangestellt – finden sich satirische Elemente, in weiteren schüttet eine Person einer anderen das Herz aus – viele der Figuren interagieren in diversen Formen miteinander, während andere sich selbst überlassen oder schlichtweg bei sich selbst sind. Ihre Rollen bleiben vorerst unklar, bleiben schwer zu silhouettieren.

Der Leser wird zum Beobachter von stoischen Abläufen, nimmt an Gedanken teil, wohnt still Projektarbeiten, Kursen, Schulungen, Konferenzen und alltäglichen Büroarbeiten bei oder vefolgt Pausengespräche – und fragt sich lange, welche Rolle auch er selbst in diesem anonymen, trockenen Nichts, das doch ein Alles ist, spielt. Denn letztendlich verbirgt sich hinter den Computerbildschirmen, Schreibtischen, Formularbergen und tristen Betonmauern ein wichtiger Teil der komplexen Maschinerie, die den Finanzverwaltungsapparat der USA am Leben hält: Menschen wie Fogle, Sylvanshine, Cusk, Cardwell, Wax oder Kenneth Hindle – die Könige sind nicht die, die in den obersten Etagen sitzen, sondern die Einzelnen, die tagtäglich in ihren Büros jenseits des Sonnenlichts, farblos und eben bleich, unbedeutend und fernab individueller Ansätze, Zahlen wälzen, Floskeln niederschreiben, prüfen, abgleichen und dabei eine extreme Konzentration an den Tag legen müssen, um Fehler möglichst zu vermeiden. Sie sind das Öl, das die Zahnräder schmiert.

Das Ei leuchtet von innen – oder: Das goldene Staubkorn und der Schmied

Doch hinter den humanoiden Fassaden, die im riesigen Gebäude in ihrer Aufgabenkapsel gefangen sind, um irgendwie auch ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, befinden sich auch die Menschen selbst, und hier versuchte David Foster Wallace offensichtlich, durch die Schalen der Individuen zu dringen und dem Leser aufzuzeigen, dass all die grau erscheinenden Mäuse inmitten dieser anonymen Schlacke, Farbsättigungsgrad 0, ein Ego besitzen. Ein Herz. Ein Schicksal. Eine Geschichte. Ängste. Motive. Ab- und Zuneigungen gegenüber Dingen und Personen, Gründe, die sie auf ihren Stuhl in der Steuerbehörde gehievt haben – generell irgendetwas, was sie auszeichnet, ganz gleich, ob unter der Schale Sympathie hervorschimmert oder nicht.

Das mag in all seinen Beschreibungen extrem trocken anmuten, doch immer wieder erlebt der Leser großartige Momente in Form subtil emotionaler Gedankengänge und zahlreicher versteckter philosophischer Anflüge, die sich oftmals nicht einmal im Geschriebenen finden, sondern in den gedanklichen Zwischentönen, die durch die via zerebraler Verarbeitung entstehenden Interferenzen aufblitzen. Das wirkt ob der erschlagenden Textmenge – bei “Der bleiche König” wird der Platz hinsichtlich Schriftsatz und auch durch entsprechend kleine Schriftgröße maximal genutzt – häufig so, als stünde man wie ein Literaturgoldsucher stundenlang das Goldsieb schüttelnd da, um letztendlich nur winzige Klümpchen vorzufinden. Doch diese Klümpchen selbst sind anhand ihrer Reinheit und ihres Gehalts von solch erhabener Qualität, dass die intensive Suche (oder eher das Finden?) letztendlich ihren Sinn absolut erfüllt, zumal die Freude darüber meist dann am größten ist, wenn bereits latent das Gefühl des Aufgebenwollens aufkommt und dann doch ein ersehntes Funkeln den Eifer aufs Neue befeuert.

Einen David Foster Wallace zu lesen bedeutet nicht primär Unterhaltung, sondern Herausforderung. Die Bereitschaft, sich dieser mit viel Geduld zu stellen, ist hierbei praktisch Grundvoraussetzung, um die Lektüre auch genießen zu können.

Cover © Kiepenheuer & Witsch

  • Autor: David Foster Wallace
  • Titel: Der bleiche König
  • Originaltitel: The Pale King
  • Übersetzer: Ulrich Blumenbach
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 7.11.2013
  • Einband: Gebunden
  • Seiten: 640
  • ISBN: 978-3-462-04556-7
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite zum Buch beim Verlag

Wertung: 14/15 dpt


4 Kommentare
  1. Oh, danke für diese ausführliche Rezension! Ich habe erst kürzlich “Besen im System” von ihm nach 50 Seiten weggelegt, weil ich nichts damit anfangen konnte – was ich überaus schade fand. Doch vielleicht sollte ich noch etwas Zeit verstreichen lassen und ihm zu späterem Zeitpunkt eine neue Chance geben. Denn ich habe mich wahnsinnig auf ihn gefreut, nur hat er meine Erwartungen nicht erfüllt. Wenn Jahre verstreichen, verschieben sich auch eben diese Erwartungen – danke, dass du mir neuen Mut gemacht hast;) lg von urwort.com

    1. Hallo 🙂 Ja, das ist das Kreuz mit Wallace – er schrieb nicht gerade Bücher, die gleich zünden. Letztendlich fand ich “Der bleiche König” trotz seiner “nur” 640 Seiten deutlich schwieriger zu lesen als den 1548-Seiten-Koloss “Unendlicher Spaß”, von daher rate ich Dir, zur Auflockerung irgendein leichter verdauliches, thematisch weit entferntes Buch parallel zu lesen… das hält einerseits, so ist das zumindest bei mir, das Interesse wach und ist meiner Meinung nach auch zum Luftholen notwendig. “Der Besen im System” habe ich selbst noch nicht gelesen, leider.

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