Sonja Kaiblinger – Scary Harry – Totgesagte leben länger (Buch, mit Illustrationen von Fréderic Bertrand)


Sonja Kaiblinger - Scary Harry 2 - Totgesagte leben längerSensenmann Harold, mittlerweile im 520. Dienstjahr, genießt gerade seinen Urlaub und lässt sich die Sonne auf die Knochen scheinen, denn momentan ist beim SBI (Seelen-Beförderungs-Institut) nichts los. Die Todes-App seines Smartphones hat schon seit einer ganzen Weile keine neuen Aufträge mehr angezeigt. Yeah! Endlich mal ein paar Tage ausspannen, endlich mal keine Seelen im Diesseits mit dem Schmetterlingsnetz fangen, in Gurkengläser zwängen und ins Jenseits befördern. Endlich mal die olle motorisierte Klapperkiste eine olle motorisierte Klapperkiste sein lassen. Einfach mal nichts tun. Nichts! Höchstens mal das Surfen lernen, ein paar Cocktails an der Poolbar schlürfen – all das, was man auf Hawaii eben so tut.

Es war schließlich ganz schön anstrengend, dem jungen Otto und seiner besten Freundin Emily zu helfen – im ersten Teil “Scary Harry – Von allen guten Geistern verlassen” musste er dafür sorgen, dass die von einem Bösewicht entführten Hausgeister, die normalerweise im Haus von Ottos Tante Sharon, welche ihn großzieht, umherspuken und für ein wenig Aufregung im drögen Alltag sorgen, wieder befreit werden. Gut, dass das Problem gelöst ist, denkt sich Harold.

Doch lange haben Emily und Otto keinen Frieden, denn auf einmal tauchen in der Stadt immer mehr Geister auf. Die Einwohner verhalten sich von Tag zu Tag seltsamer, und es dauert nicht lange, bis auch in der Schule ein riesiges Tohuwabohu herrscht. Doch selbst die Hausgeister sind leicht neben der Kappe. Für die beiden ist klar, dass hier irgendetwas faul ist. Zum einen muss die ganze Sache wohl etwas mit Ottos verstorbenem Onkel Archibald zu tun haben, zumal die beiden ein “geisterhaftes”  Utensil aus seiner Hinterlassenschaft gefunden haben, und zum anderen scheint die digitale Verbindung zwischen Dies- und Jenseits gestört oder gar gekappt zu sein.

Und so kommt es, wie es kommen muss: Eine SMS von Otto mit der Bitte um Hilfe erreicht Harold – tja, als guter Freund der beiden Kids ist es ja wohl selbstverständlich, ihnen zur Hilfe zu eilen. Da unterbricht man eben auch mal seinen Urlaub, wenn auch zähneknirschend…

Bei ihrem gemeinsamen Abenteuer kommen nicht nur Emily und Otto kaum aus dem Staunen heraus, sondern auch Harold selbst – denn er, der den zweien eigentlich immer einen Schritt voraus ist, stößt mehrfach an seine Grenzen – ebenfalls an die Grenzen seiner Geduld, denn Ottos Vampirfledermaus Vincent, halb Geist, halb Fledermaus, hält nicht viel von Vorsicht, von Manieren oder von Feingefühl und kostet die drei mal wieder einiges an Nerven, zumal das flapsige und vorlaute Flattervieh am laufenden Band freche Sprüche abliefert und von dem zuweilen schusseligen Harold nicht umsonst Flugratte genannt wird – doch Vincent wäre nicht Vincent, wenn er trotz seines unmöglichen Verhaltens nicht hier und dort auch den ein oder anderen Geistesblitz hat.

Die österreichische Autorin Sonja Kaiblinger hat mit “Scary Harry” nicht nur zum goldrichtigen Zeitpunkt eine Buchserie ins Leben gerufen, die weder Geschlechterklischees befeuert, auf Trends aufspringt noch subtil erzieherisch daherkommt, sondern auch eine, die primär mit Unterhaltung zu punkten weiß. Mit etwas Gruselei und vielen skurrilen Ideen werden die Leser schlichtweg auf ein Abenteuer mitgenommen, das einerseits wunderbar spannend und verworren ist, andererseits für laute Lacher sorgt, sodass man als stiller Begleiter nicht von der Seite des ungleichen Quartetts weichen möchte – nicht zuletzt auch deswegen, weil die “Scary Harry”-Reihe angenehm unvorhersehbar ist. Neben der sehr burtonesken Note wohnt dieser fürwahr rattenscharfen Buchreihe auch ein wenig britisches Flair inne – das Ganze könnte ohne weiteres auch in einem kleinen Londoner Vorort stattfinden.

Die Figuren selbst sind hierbei durch die Bank sympathisch: Die Freunde Otto und Emily punkten durch ihren Individualismus und ihre Cleverness, Harold durch seine eigenwillige Coolness und Tollpatschigkeit, die Hausgeister durch ihre Eigenarten, Tante Sharon durch ihre fürsorgliche und liebevolle Art – und Vincent durch sein, nun ja, Vincentsein – doch selbst die Antagonisten haben ihre unterhaltsamen Macken und Schrullen. Jeder ist auf seine Weise unperfekt, und dieser in seiner Gesamtheit herrlich heterogene, kunterbunte Haufen bringt nicht nur Leben in die Kinderliteratur, sondern auch ein klein wenig Anarchie.

Die Schriftstellerin beweist, dass in puncto Kreativität im Kinderbuchgenre noch lange nicht alles gesagt ist – doch anstatt das Schrille und Humorvolle einfach nur in den Vordergrund zu stellen und auf Effekthascherei zu hoffen, strickt Kaiblinger um das ganze literarische Gruselkabinett und -szenario eine durchdachte Story, bei welcher der Leser oftmals die Luft anhalten muss. Schön bei alledem ist, dass die Autorin die wichtigen Verbindungsstücke namens Freundschaft und Zusammenhalt zu einer tragenden Einheit werden lässt, aber eben nicht in Form eines pädagogischen Auftrags, sondern als reine Selbstverständlichkeit.

Wie auch beim Vorgänger zeichnet der Illustrator Fréderic Bertrand für die schweinecoolen Zeichnungen verantwortlich – offenbar sind Kaiblinger und Bertrand ein sehr gut eingespieltes Team, denn das Geschriebene und das Gezeichnete ergänzen sich einander hervorragend, und auf der zerebralen Leinwand verwandeln sich die statischen Bilder beinahe schon in einen kleinen Animationsfilm, und es wäre gar nicht mal abwegig, das Ganze in eine audiovisuelle Form zu transformieren.

Es ist nicht abzustreiten, dass die “Scary Harry”-Reihe ein gewisses Suchtpotenzial in sich birgt, denn die Figuren wachsen einem unglaublich schnell ans Herz, und auch der Ideenreichtum und die wunderbare Abgedrehtheit sorgen dafür, dass man schlichtweg wissen möchte, was Otto, Emily, Vincent und Harold als nächstes erwarten wird. Und so hofft man, dass nach “Totgesagte leben länger” doch bitteschön noch lange keine Ruhe ist mit all den spukenden Geistern. Normalzustand? Bitte nicht!

 Cover/Artwork © Loewe Verlag, gezeichnet von Fréderic Bertrand

Wertung: 13/15 dpt

 

 


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