Schauplatz eins: Berlin, eisigste Minusgrade. Der obdachlose Oskar, der es sich in einem stillgelegten U-Bahn-Schacht einigermaßen wohnlich eingerichtet hat, findet einen schwerverletzten Mann und fühlt sich ihm zu helfen verpflichtet. Er versorgt ihn, kümmert sich um ihn und nimmt ihn in sein “Zuhause” mit. Der fremde Mann ist völlig orientierungslos, spricht die englische Sprache besser als die deutsche und hat sein Gedächtnis komplett verloren – nicht einmal seinen Namen weiß er. Auch hat er keine Ahnung, woher seine Schusswunde stammt – oder wer seiner Hand auf ewig und dilettantisch den Schriftzug “Noah” (wie ihn der Obdachlose, der Verschwörungstheorien nicht abgeneigt erscheint, fortan nennt) verpasst hat. Nur eines scheint beiden klar zu sein: Man wollte ihn töten.
Schauplatz zwei: Manila. Eine Mutter versucht rührend und selbstlos für ihr Kind zu sorgen, doch die Familie, die in den verwahrlosten Slums bei einer Mülldeponie lebt und deren Familienvater verstorben ist, ist sowohl gesundheitlich als auch finanziell am Rande ihrer Kräfte. Gemeinsam mit ihrem älteren Sohn suchen sie den Weg heraus aus den Slums, um Hilfe zu erhalten – doch bereits fast vor ihrer Haustür lauert das Militär, das das Slumviertel durch beinahe hermetisch verriegelt – die Gründe werden dem Hörer bald klar, denn eine Grippe-Pandemie sorgt für weltweite Angst, denn die Menschheit muss um ihr Leben bangen: Zehntausende Menschenleben hat das “Manila-Virus” bereits auf dem Gewissen.
Noahs Erinnerungen flackern nur in kleinsten Fragmenten auf. Als er mit Oscar, im Grunde mehr zum Zeitvertreib, entsorgte Zeitungen wälzt, entdeckt er ein Kunstwerk in einer amerikanischen Zeitung, welches in seinem Kopf unweigerlich Gedankenfetzen aus der Vergangenheit evoziert. Im Text zum Bild wird der Urheber des Werkes dazu aufgefordert, sich zu melden, zumal ein siebenstelliger Betrag in Aussicht steht, der auf ihn wartet. Natürlich ist das Geld zu verlockend, um diese Möglichkeit auszuschlagen, und so wird nach der Überwindung einiger Hürden die US-amerikanische Journalistin Celine kontaktiert und ein Treffen arrangiert – eines, das eine ungeahnte Kette an Ereignissen mit sich zieht.
Der Namenlose Noah stellt in einer sich bald ereignenden lebensbedrohlichen Situation obendrein fest, dass er unfassbar gute Reflexe besitzt und problemlos zu töten in der Lage ist, und kaum ist er sich des Schlamassels bewusst, findet er sich in einem schier undurchsichtigen Wirrwarr wieder. Er, der Agent Altmann und die Journalistin geraten schnell ins Visier eines mächtigen Gegners – in das der Geheimorganisation “Room 17”, die der Überbevölkerung der Erde, der Wirtschaftsdiktatur sowie der Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit der Menschen mit biologischen Waffen ein Ende bereiten will. Bei den Ermittlungen und Recherchen quer über den Globus kommen immer unglaublichere Dinge an die Oberfläche, und Noah gerät Schritt für Schritt immer näher in Richtung Wahrheit – und zu sich selbst.
Die komplex verwobenen Erzählstränge laufen hierbei dicht nebeneinander her und unweigerlich zusammen, doch wo genau die Knoten, sprich Zusammenhänge existieren, lässt Fitzek mit diesem für ihn doch speziellen, Neuland betretenden Roman bis fast zum Schluss offen. Die Grundlage für einen exzellenten Thriller ist somit geschaffen, doch der neueste Streich des Autors, mit welchem er für sich gewissermaßen Neuland beschreitet, ist deutlich mehr als nur ein Thriller. “Noah” ist eine hochspannende Geschichte, die mit zwei Staubkörnern in Form zweier verlorener Menschen – einem Obdachlosen und einem amnestischen Verwundeten – beginnt und sehr bald die gesamte Welt, wie wir sie kennen, umfassen wird.
Eine Welt, deren Bevölkerung trotz der demographischen Rückläufigkeit in den wohlhabenden Ländern und Staaten kontinuierlich rasant anwächst und sowohl System als auch Klima zu kollabieren drohen. Eine Welt, in der man in jenen Ländern und Staaten für Dumpingpreise Fleisch kauft, ohne zu wissen oder Interesse dafür zu zeigen, unter welchen Umständen dieses Fleisch in den Kühlregalen und Fleischtheken landet – und vor allem, was es für die Umwelt bedeutet. Oder noch schlimmer: Trotz des Gewahrseins der Umstände nichts an seinem Verhalten ändert, entweder aus Gleichgültigkeit, Geldmangel oder schlichtweg aus Gründen der Hilflosigkeit, weil das in der Truhe liegengelassene Steak irgendwann ohnehin entsorgt wird und die Entscheidung des Liegenlassens ebenfalls die falsche wäre.
Eine Welt, die stets nach dem Höher-Schneller-Weiter-Prinzip agiert, in der die Wirtschaftsdiktatur herrscht und in der stets Gewinnmaximierung und -optimierung den Ton angeben. Eine Welt, die einerseits durch Wohlstandsverwahrlosung ins Ungleichgewicht geraten ist (hier Nahrung im unfassbaren Überfluss, die schlichtweg auf dem Müll landet, dort Menschen, die sich aus Verzweiflung ihre eigenen Haare vom Kopf essen). In der durch extrem betriebene Landwirtschaft Tierexkremente der Umwelt gravierend schaden. In der Billigobst und -gemüse von Kontinent zu Kontinent geflogen werden, damit der Europäer für die Zutaten seiner Gemüsepfanne nicht mehr als zwei oder drei Euro in die Münzschale werfen muss. In der Unterhaltungselektronikmüll tausende von Kilometern entfernt auf Deponien liegt und giftige Gase gen Himmel steigen, welche von Menschen, die dort zum Verkauf Verwertbares zum Überleben suchen, eingeatmet werden.
Eine Welt, in der die Pharmaindustrie dem Mainstream stellenweise Krankheiten und deren Behandlungsnotwendigkeit vorgaukelt, andererseits Inhaltsstoffe in Nahrung, Kleidung und Gebrauchsgegenständen enthalten sind, die gesundheitliche Folgen mit sich ziehen können, während in Entwicklungsländern sowohl die Versorgung mit Nahrung als auch die medizinische Versorgung – wenn überhaupt – nur mit leidlich vorhandener Hilfe von außen rudimentär vorhanden ist; Teilweise in Entwicklungsländern, deren dort lebende Menschen zu inakzeptablen Löhnen Kleidung herstellen oder auf Plantagen ihre Knochen schinden, damit beispielsweise der Discounterkaffee für drei Euro in den Regalen steht – oder sich Supermarktketten mit ach so tollen Fair-Trade-Labels auf den Packungen selbst auf die Schulter klopfen, jener Fair-Trade-Kaffee den doppelten Betrag oder gar mehr kostet, die tausende von Kilometern entfernten Arbeiter selbst allerdings gerade mal – wenn überhaupt – ein paar lächerliche Cent mehr sehen. Dem Verbraucher wird durch solche Produkte leider in zahlreichen Fällen lediglich suggeriert, er mache die Welt ein Stückchen besser, und er selbst geht mit einem guten Gefühl und etwas erkauftem gutem Gewissen nach Hause. Darauf ein Kotelett aus dem Sonderangebot, und wenn man schon eine solch gute Tat vollbracht hat, kann man dies auch genüsslich mit dem feinen Rotwein für 1,69 Euro feiern.
Der Mensch in den Wohlstandsländern – zumindest der, der im Monat nicht gerade überdurchschnittlich gut verdient, wird allerdings gesellschaftlich und finanziell an der kurzen Leine gehalten, sodass er, wenn er Fleisch essen möchte, eben nicht unbedingt das Geld aufwenden kann, um sich beim Biobauern ein frisch geschlachtetes Schwein, Rind oder Geflügeltier zu kaufen. Und dann stellt sich natürlich, wenn man keine Tiere oder Tierprodukte isst, auch die Frage, ob das Gemüse, das Obst und die pflanzlichen Erzeugnisse auch einwandfrei sind, denn: Ist vegetarische oder gar vegane Ernährung auch ökologisch die bessere Lösung? Sond Sojamilch, Tofu, die Paprika für 99 Cent pro Dreierpack oder die Möhren für 1,49 Euro pro Kilo frei von Schadstoffen? Und sind sie es immer noch, wenn das Fahrzeug mit den Biomöhren eine ökologisch untragbare Dreckschleuder ist, die auch noch über dicht befahrene Straßen fahren muss, welche womöglich auch noch durch eine industriestarke Gegend mit vielen Fabrikschloten führt?
Zudem betreibt der Mensch, wenn als Endverbraucher auch indirekt, Raubbau an der Natur – er bringt es fertig, Erdölvorräte, die in 250 Millionen Jahren entstanden sind, in rund einem Millionstel dieses Zeitraums aufzubrauchen. Nicht nur durch Kunststoffgehäuse und dergleichen, sondern durch den Gebrauch und das Wegwerfen von Abermilliarden Plastiktüten und Einzelverpackungen. Durch die gerade im ländlichen Bereich unvermeidliche Fortbewegung via PKW (wobei die Biosprit-Alternative aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen keine wirkliche Alternative darstellt).
Der Rattenschwanz an Missständen könnte endlos weitergeführt werden, und jedem Menschen, der ein Mindestmaß an Intelligenz besitzt, ist im Grunde klar, dass er selbst das Schicksal seiner Spezies in die Hand nehmen muss – denn es ist keinesfalls bloß das Unwissen (oder – misanthropisch ausgedrückt: die Dummheit) des Menschen, dass keine Änderung herbeigeführt werden kann, sondern letztendlich und zum größten Teil die Gier großer Firmen und Konzerne, welche niemals auf die Idee kämen, ihre Ansprüche herunterzuschrauben und ihrem Drang nach Wachstumsmaximierung Einhalt zu gebieten. Dem gegenüber steht die “Macht” des Einzelnen, der im Endeffekt einen lächerlichen, mikroskopisch kleinen Bruchteil des Gesamten darstellt – und dieser Einzelne ist geplagt mit einem schlechten Gewissen, aber auch mit Resignation und Hilflosigkeit, vor allem auch mit der Gewissheit, dass eine “Handvoll” ernsthaft am Wechsel interessierter Menschen absolut nichts gegen die monolithische Einheit Geld/Wirtschaft auszurichten in der Lage ist und die umweltlich, wirtschaftlich und gesundheitlich katastrophalen Zustände in finanzschwachen und mittellosen Staaten als Kollateralschäden von beiden Seiten in Kauf genommen werden – denn letztendlich sind die eigene Mahlzeit und die eigenen warmen vier Wände etwas, worauf der wohlstandsverwöhnte homo sapiens sapiens nicht verzichten möchte. Egoismus versus Altruismus. Der Mensch als Philanthrop und Misanthrop zugleich. Der Mensch als Paradoxon.
In “Noah” sieht die Geheimorganisation Room 17 die einzige sinnvolle Lösung zur Rettung des Planeten darin, die Weltbevölkerung radikal zu minimieren und zu entsprechend radikalen Mitteln zu greifen, und auch hier wird der Leser respektive Hörer vor die essentielle Frage gestellt: Wie viel Mensch verträgt die Erde? Wäre eine solche Maßnahme ungeachtet ihrer eindeutigen Unmenschlichkeit und ethischen Unkorrektheit wirklich die Rettung?
Sicherlich erinnert hier vieles – wie es vielerorts bereits von anderen Pressestimmen angemerkt wurde – an Dan Browns “Inferno”, doch die Verworrenheit und Größe, mit der der Berliner Fitzek seinen Thriller gestaltet hat, ist von einem epischen Ausmaß, sodass der Erfolgsautor aus Übersee im Vergleich fürwahr alt aussieht – zumal Fitzek keinen literarischen Ankerpunkt (Dante Alighieris “Göttliche Komödie” im brownschen Werk) benötigt.
Ohne als Autor selbst in die Rolle des vermeintlichen Weltverbesserers zu schlüpfen – wie er im Nachwort auch nachdrücklich anmerkt – werden, verpackt in einen vielschichtigen Thriller, Fragen aufgeworfen. Gewissensfragen. Fragen der Moral. Fragen, ob der Mensch so weiterleben darf wie bisher. Was er tun kann. Ob es Sinn ergibt. Eine wirkliche Antwort hat Fitzek sowohl in “Noah” als auch im Nachwort nicht. Auch fordert er keinesfalls eine Antwort vom Leser ein und möchte ihm auch kein schlechtes Gewissen einreden. Vielmehr versucht er, zum Nachdenken anzuregen. Sein eigenes Handeln zumindest zu hinterfragen. Und das gelingt dem Schriftsteller mit einem packenden und hinsichtlich Spannung unterhaltenden Roman fast perfekt.
Allerdings “fast perfekt” und somit “nur” dreizehn statt volle fünfzehn booknerdische Dioptrien wert, weil die vorliegende Hörbuchversion gerade hinsichtlich des Manila-Teils offenbar doch sehr deutlich gekürzt wurde – so fehlt beim Hörbuch beispielsweise das komplette erste in Manila spielende Buchkapitel. Daher beschleicht den Rezensenten hier wie bei kaum einem anderen Hörbuch das Gefühl, dass hier nicht etwa erzählerische Längen herausgestrichen wurden, sondern inhaltlich relevante Fragmente, die der Schere nur deswegen zum Opfer fielen, damit das Endprodukt auf die anvisierten sechs CDs passt.
Sicher, man kann als Download auch die ungekürzte Version erwerben, doch dass man sich, wenn man das jene Version hören möchte, per Abonnement bei einem großen Anbieter knebeln lassen muss, der obendrein ein eigenes Audioformat mit sich bringt, das auch nur mit entsprechender Software abspielbar ist, ist schlichtweg ärgerlich und inakzeptabel. Warum bietet der Verlag dies nicht selbst an oder veröffentlicht das Hörbuch zusätzlich in physischer Form als ungekürztes mp3-Hörbuch?
Denn das Hörbuch selbst ist akustisch ein wahrer Genuss – die für Lübbe Audio typischen kurzen Musikeinspieler zu Anfang und Beginn jeder CD passen atmosphärisch perfekt zu der Story und bilden gemeinsam mit der variablen Stimme des auch als Synchronsprecher sehr aktiven Simon Jäger (Matt Damon, Heath Ledger, Jet Li und Josh Hartnett in diversen Spielfilmen sowie Eddie McClintock als Pete Lattimer in “Warehouse 13”, um nur einen Bruchteil seiner Arbeiten zu nennen) eine äußerst wohlklingende Einheit. Jäger unterstreicht hier einmal mehr seinen Ruf als einer der besten deutschen Hörbuchsprecher, und es wäre kaum verwunderlich, wenn er auch für “Noah” eine Auszeichnung erhält.
Cover © Lübbe Audio
- Autor: Sebastian Fitzek
- Titel: Noah
- Label: Lübbe Audio
- Erschienen: 20.12.2013
- Sprecher: Simon Jäger
- Spielzeit: 432 Minuten auf 6/7 CDs*
- ISBN: 978-3-7857-4784-1
- Sonstige Informationen:
Bearbeitete und autorisierte Fassung
Produktseite beim Label
*Die Erstauflage enthält noch eine siebte CD mit dem Soundtrack, welcher auch separat erhältlich ist.
Wertung: 13/15 dpt