Die Wirtschaftskrise eigne sich nicht, in Romanform gegossen zu werden? Pustekuchen. Hier ist er: der Roman zur Wirtschaftskrise! “Am Ufer” heißt der neue Roman des großen spanischen Romanciers Rafael Chirbes, der in Deutschland neben José Marias sicherlich zu den bekanntesten Protagonisten der spanischen Literatur zählt. Wo der eine sich vielleicht immer ein kleines Stückchen zu sehr in Innerlichkeiten suhlt, wühlt Chirbes gerne mal im “Dreck” der äußeren Welt, was in diesem Fall bedeutet: der Finanzwelt und der geplatzten Immobilienblase, die dieses Land an den Rand des Staatsboykotts geführt hat.
Der Roman schildert neben einem kurzen dramatischen Vorspiel einen einzigen Tag im Leben Estebans, dem Eigentümer einer Familienschreinerei, und seinen inzwischen entlassenen Mitarbeitern. Im Kern aber – und damit das Zentrum der analytischen Erklärungsversuche Chirbes’ für die Krise – ist dieser Roman ein Vater-Sohn-Roman und eine erneute Abrechnung mit Francos Spanien. Francisco Franco etablierte von 1937 bis 1977 ein diktatorisches System in Spanien, das erst mit seinem Tod 1975 zu bröckeln begann und 1977 mit den ersten freien Wahlen durch den Aufbau demokratischer Strukturen abgelöst wurde. Aus dieser Geschichte heraus versucht Chirbes eine Analyse über die Ursachen der aktuellen Wirtschafts- und Immobilienkrise zu liefern. Tatsächlich gelingt es ihm eine Argumentationslinie zu ziehen, die nachvollziehbar, aber sicherlich nicht die einzige ist. Ob es wirklich an einer durch Franco eingeführten Mentalität liegt, der wirtschaftlicher Ehrgeiz eher fern liegt? Ist der heimelige Rückzug auf die Familie schuld an der derzeitigen wirtschaftlichen Misere? Ist es die abnehmende Relevanz religiöser oder moralischer Werte? Oder die althergebrachte Dualität von falsch verstandener Intellektualität versus sozialer und politischer Entscheidungsträgerschaft? Beinahe sträflich-plakativ beschreibt Chirbes, wie Estebans Vater eigentlich Bildhauer werden wollte, am Ende aber doch Schreiner werden musste. Gebrauchsgegenstände statt großer Kunst. – »Is a dream a lie, if it don’t come true?« Diese Erklärungsmuster greifen am Ende für eine erschöpfende Analyse der Krise aber viel zu kurz – doch Bruce Springsteen werden wir in dieser Rezension noch einmal begegnen. Und das nicht allein aufgrund der Fluss-Thematik.
Nun hat der Rezensent etwas gemacht, was man eigentlich niemals machen sollte, nämlich die Aussagen des Protagonisten als ungefilterte Autorenaussagen hinzustellen. Doch tatsächlich lässt Chirbes keine relativierende, keine alternative Stimme auftreten, die eine andere Argumentationskette strickt. Und diese Eindeutigkeit ist dann auch ein wenig die Schwäche dieses ansonsten so sprachmächtigen Romans. Die gequälten Versuche Estebans, sich in seinen familiär aufgezwungen Unternehmungen zu durchdachten Entscheidungen durchzuringen, sind brillant beschrieben und liefern Ansätze einer immer noch viel zu wenig betrachteten Dezisionspoetik.
»Wobei unternehmerisch in unseren Zeiten ein hässliches Wort ist, vor einem Jahrhundert noch bedeutete es Unruhe, Fortschritt, jetzt ist es ein Synonym mehrerer Wörter mit negativer Energie: Ausbeutung, Egoismus, Verschwendung.« Dieser Satz macht wohl deutlich, dass es Chirbes mit seinem Roman nicht um eine Erklärung gehen kann. Vielmehr dominiert in den Erinnerungen, Schilderungen und Gesprächen, in deren Zentrum Esteban steht, ein böser, beinahe schon resignierender Zynismus. In seiner gnaden- wie hoffnungslosen Bitternis, die eine durchgängig düstere zornig-resignative Atmosphäre verbreitet, ist der Roman radikal und erinnert hier auch ein wenig an den Song “Wrecking Ball” vom Springtsteen Bruce. Dieser Zorn ist aber nicht nur auf die Wirtschaftsmagnaten gerichtet, sondern schließt auch die kolossale Enttäuschung des Autors mit den Linken, die in Spanien seit einigen Jahren an der Macht sind mit ein. »Von der großen Hoffnung zum großen Schnäppchen«, so heißt es im Roman und verdeutlicht das integrale zweischneidige Wesen von Werten. Wie das Geld über Zahl und Kopf verfügt, so stehen und fallen alle noch so feinen Werte allein in Bezug auf ihre konkrete Realisation in der Welt. Und anstatt den Zorn und die Enttäuschung umzumünzen, verharren die Protagonisten beinahe versteinert vor den Zeitläuften: Alles fließt, nichts ist mehr wie es war. Aus dieser Bestandsaufnahme folgt nur noch die tiefe Depression.
Sicherlich gebührt der Literatur die Funktion einer Chronistenpflicht. Doch nur eine Situationsbeschreibung liefern, das ist für diesen Roman und diesen Romacier zu wenig. Rafael Chirbes, das hat er in seinem bisherigen Werk bewiesen, verfügt über eine Sprachmacht, dass man sich wünschte, er würde nicht bei der Depression halt machen und stattdessen eine Figur einführen, die einen Ausweg aufzeigt. Nicht missverstehen bitte, eine bittersüße Utopie oder platte agitatorische Handlungsmuster wären genauso fehl am Platz. Doch die literarische Kanalisation des Zorns, der die depressive Innerlichkeit verlässt und auf die Straßen bringt, dieses zu schildern, das stünde der Literatur gut – und käme den großartigen Fähigkeiten dieses begnadeten Autors entgegen. Die durchdeklinierte Metaphorik des hier resignativ und rein passiv-betrachtend interpretierten “panta rhei”, die sich schon im Romantitel “Am Ufer” zeigt, enttäuscht leider. Und so bleibt bei aller Begeisterung und sprachlichen Qualität des Romans der etwas schale Leseeindruck, dass Rafael Chirbes sicherlich eine zwar faszinierend schwarze Chronik der Gegenwart gelungen ist, er aber bei aller Bitterkeit Teil der Depression ist. Damit mangelt es dem Roman ein wenig an literarischem Mut, das Dead-End der depressiven Einbahnstraße mit einem literarischen Vorschlaghammer freizusprengen.
Cover © Antje Kunstmann Verlag
- Autor: Rafael Chirbes
- Titel: Am Ufer
- Originaltitel: En la orilla
- Übersetzer: Dagmar Ploetz
- Verlag: Verlag Antje Kunstmann GmbH
- Erschienen: 01/2014
- Einband: gebunden
- Seiten: 430
- ISBN: 978-3-88897-867-8
Wertung: 9/15 dpt