Die vorherige Romanveröffentlichung des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami trägt den Titel “1Q84“. Im japanischen Original sind drei, in deutscher Ausgabe zwei Bände erschienen, es ist ein wahrhaftig monumentales Werk. Auf insgesamt eintausendsechshundert Seiten entwickelt der Autor eine Story, die deutliche phantastische Züge trägt, wie eine Welt mit zwei Monden, kleinen Leuten und einer Puppe aus Luft. Im Magischen Realismus, dieser Kunstform rechnet man Murakamis Werk zu, findet keine bewusste Abgrenzung der phantastischen zur realen Welt statt. Vielmehr wird die Wirklichkeit so verzerrt, dass eine Welt mit eigenen Gesetzen neben der uns bekannten entsteht. Wichtiger ist, dass nicht nur Traumwelt und Realität, sondern auch Intellekt und Gefühl grenzübergreifend ineinanderfließen. Der aktuelle Murakami Roman “Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki” unterscheidet sich deutlich von seinem Vorgänger. Er ist mit gut dreihundert Seiten recht kurz geraten und die Handlung verlässt unsere Welt nicht. Dennoch lässt die Geschichte bisweilen die Grenzen des Wahrnehmbaren hinter sich.
Tsukuru Tazaki führt ein einsames, farbloses Leben in Tokio. Allein sein Beruf macht ihm Freude, denn er arbeitet bei der japanischen Eisenbahngesellschaft als Ingenieur und konstruiert Bahnhöfe. Für Bahnhöfe und Züge hat Tsukuru schon von Kindesbeinen an eine Leidenschaft entwickelt, und somit wurde der Verkehrsknotenpunkt Tokio zu dem Ort, an dem er studieren und arbeiten wollte. Sonst hat Tsukuru keine Interessen, die ihn anderen Menschen näher bringen könnten. So bleibt er allein in seinem Büro oder seiner Eigentumswohnung in der Megametropole. Doch dann tritt Sara in sein Leben. Ihr gegenüber öffnet sich Tsukuru ein wenig, er vertraut ihr das Trauma seiner Jugend an.
Einst hatte er in seiner Geburtsstadt Nagoya vier Freunde, mit denen er durch dick und dünn ging. Sie alle tragen Farben im Namen, die Mädchen heißen Shirane (weiße Wurzel) und Kurono (schwarzes Feld), die Jungen Akamatsu (Rotkiefer) und Oumi (blaues Meer), hingegen steht der Name Tazaki für etwas machen oder bauen. Doch das störte die Harmonie der Gruppe in keiner Weise, und auch nach der Schulzeit, als Tsukuru zum Studium Nagoya verließ, blieb die Gemeinschaft bestehen. Bis das Unvorstellbare passierte. Ohne zunächst ersichtlichen Grund verstießen ihn seine Freunde und brachen jeglichen Kontakt ab.
Ein halbes Jahr litt Tsukuru so extrem unter der Trennung, dass er in eine intensive Todessehnsucht verfiel. Sein einziger Freund in Tokio, Haida (graues Feld), half ihm diese Zeit zu überwinden, bevor auch er spurlos verschwand.
Sara stellt eine Bedingung, bevor sie zu weiterem Sex mit Tsukuru bereit ist. Sie möchte, dass er den Grund für sein Trauma herausfindet. Und so beginnt ein weiterer Abschnitt der Pilgerjahre des Tsukuru Tazaki, in seine Vergangenheit und zurück zu sich selbst.
Zwei Frauen gebührt in “Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki” eine Heldinnenrolle, wie so oft bei Murakami. Und zwar Sara, der Freundin des Protagonisten, und schließlich der Schulfreundin Kuro, die Tsukuru in Finnland trifft.
Akribisch beschreibt der japanische Autor, wie seine Ladies aussehen und was sie tragen, sodass man ein genaues Bild vor Augen hat. Lebendig werden beide vor allem in den Dialogen, in denen sie provokant ehrlich dem farblosen Herrn Tazaki einen Spiegel vorhalten. Sara einen, der Tsukuru sein aktuelles Abbild als Mitdreißiger zeigt, Kuro einen, der ihn in seiner Jugendzeit widerspiegelt. Sara ist zugleich Start und Zielpunkt dieser Reise, Kuro die wichtigste Versorgungsstation. Dazwischen liegen Treffen mit den ehemaligen Freunden, weitere Ausflüge in die Vergangenheit, einige Abstecher in Träume und Geschichten.
Murakami führt auf der Suche nach der Wahrheit nicht nur seine farblose Hauptfigur auf Irrwege, sondern auch den Leser. Tsukuru erfährt, was der Grund für die Zurückweisung gewesen sein soll, doch er bestreitet das Ereignis. Zwischendurch kommen ihm und dem Leser allerdings Zweifel. Könnte vielleicht doch etwas eigentlich Unmögliches geschehen sein? Die Frage nach Schuld, Pflicht und Verantwortung zieht sich als roter Faden durch die Odyssee. Die Sehnsucht nach Liebe, der Tod und die Musik sind weitere Begleiter der Pilgerfahrt und prägen die einmalig märchenhafte, manchmal bizarre Atmosphäre des Romans. Wie kein Zweiter schafft es Murakami, Geschichten wie aus dem Leben gegriffen zu erzählen und ihnen einen phantastischen Hauch zu verleihen. So lesen wir auch in einer realitätsverbundenen Geschichte wie “Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki” surreale Episoden, wie die mit dem sterbenden Jazz-Pianisten Midorigawa (grüner Fluss), den Haidas Vater auf seiner Pilgerreise trifft. Oder der erotische Traum, in dem sich der Graue zwischen die Weiße und Schwarze drängt.
Der Soundtrack zum Roman ist das Stück “Le mal du pays” (“Heimweh haben”) aus Franz Liszts Sammlung “Années de pèlerinage” (“Pilgerjahre”) in der Interpretation des russischen Pianisten Lazar Berman. Anfangs traurige, melancholische Klänge scheinen schließlich in einer Harmonie anzukommen. In Tsukurus Jugend spielte seine Freundin Shiro das Stück am Klavier, später hörte er es mit Haida, der ihm die Langspielplatte überließ. Und so ist Murakamis neuer Roman einer, den man mit allen Sinnen genießen kann. In Farben schwelgen, sich in Klängen verlieren, vor allem aber Tsukuru aus seinem farblosen Dasein in eine reichere, vielleicht buntere Zukunft begleiten. Wir verlassen ihn dort (naja, fast), wo er sich zuhause fühlt, am Bahnhof Shinjuku, Zügen nachsehend und Pläne schmiedend.
Auch wenn das Ende, wie stets bei Murakami, in gewisser Weise offen bleibt, schaut man mit versöhnlichem Blick auf das zurück, was der farblose Herr Tazaki in seiner Zeit als Pilger erlebt und erfahren hat. Und nimmt davon etwas in seinen eigenen allzu oft farblos anmutenden Alltag mit, nämlich ein Gefühl der Dankbarkeit für erhaltene Liebe und Freundschaft.
Cover © DuMont Buchverlag
- Autor: Haruki Murakami
- Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
- Originaltitel: Shikisaki wo motanai Tazaki Tsukuru to kare no junrei no toshi
- Übersetzer: Ursula Gräfe
- Verlag: DuMont Buchverlag
- Erschienen: 01/2014
- Einband: Hardcover
- Seiten: 318
- ISBN: 978-3-8321-9748-3
- Sonstige Informationen:
Erwerbsmöglichkeit beim Verlag
Wertung: 14/15 dpt
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