Im Jahr 2011 eröffnete “Es war einmal Indianerland” Nils Mohls “Liebe-Glaube-Hoffnung”-Trilogie, und im selben Groove sowie in derselben Umgebung, einer an den Hamburger Stadtteil Jenfeld erinnernden, unschönen Plattenbaugegend, spielt auch “Stadtrandritter”. Daher ist es wenig verwunderlich, dass mit Mauser, Edda und Kondor ein paar bereits Bekannte auftauchen. Doch wenngleich es nicht schaden kann, die Charaktere aus “Es war einmal Indianerland” zu kennen, steht “Stadtrandritter” trotz seiner zeitlich losen Anknüpfung an den Vorgänger ohne Probleme, ohne Verständnislöcher und ohne unbedingt zu schließende Wissenslücken als eigenständige Geschichte, sodass die Reihenfolge der Lektüre keine entscheidende Rolle spielt.
Der auffällig violett-pinke und dennoch schlicht aufgemachte Roman (einer von vielen Gegensätzen, welche dem Leser begegnen werden) wurde – auch von Mohl selbst – als Epos angekündigt, und die skeptische Augenbraue so mancher bibliophiler Zeitgenossen trotzte ob der Skepsis reflexartig der Schwerkraft. Nicht selten zogen solch großspurige, markige Worte letztendlich einen schwachen Zug lediglich heißer Luft nach sich, die bestenfalls ein paar Staubkörner dazu animierte, ganz keck ihren Nachbarn in die Seite zu knuffen. Doch nach der Lektüre des vorliegenden gedruckten Backsteins bebt und brennt es, und nicht selten entsteht ein Feeling, das gelegentlich an Jan Brandts “Gegen die Welt” erinnert, gemischt mit etwas herrndorfschem Flair.
Wiedersehen Funken Feuer
Merle und Silvester lernten sich im Konfirmandenalter kennen, und mit der Zeit entwickelte sich aus der Freundschaft beinahe etwas mehr – doch mit der Zeit haben sich die beiden, im Grunde gar nicht bewusst, wieder aus dem gegenseitigen Blickfeld verloren und die Jahre vergingen. Als Merle sechzehn war, ging sie im Rahmen eines Austauschjahres ins Ausland, und nun kehrt sie wieder zu ihrem Elternhaus zu ihrer insgesamt fünfköpfigen Familie am Stadtrand zurück. Silvesters Leben verlief eher tragisch, denn er lebt mit seiner psychisch angeschlagenen Mutter mitten im Plattenbau und hat auch nach drei Jahren den tragischen Tod seiner Schwester Kitty nicht wirklich verkraftet. Noch immer sucht er vergeblich nach Gründen, weswegen sie an einem Hirnschlag sterben musste – einfach so, Systemkollaps, tot.
Unverhofft treffen Silvester und Merle wieder aufeinander, und keiner von beiden kann verleugnen, dass zwischen ihnen noch irgend etwas in der Luft liegt. Doch Silvester hegt seit einiger Zeit mit Kittys damaliger bester Freundin, der selbstbewussten, streitlustigen Domino, eine Liaison, während Merle von so manchem Geschlechtsgenossen Silvesters kaum übersehbar begehrt wird. Die Gefühlswelt beider schwankt gewaltig, denn Silvester ist trotz seiner Beziehung zu Domino rasend eifersüchtig auf den junggebliebenen Gemeindepfarrer Kamp, zu dem sich Merle irgendwie hingezogen fühlt. Die wiederum hegt einen Groll auf Domino, die nicht daran denkt, Silvester aus ihren Händen zu geben. Merle versteht Silvester nicht. Silvester versteht Merle nicht. Beide verstehen sich selbst nicht. Handeln widersprüchlich, zuweilen unsinnig, entfernen sich, während sie aufeinander zugehen, voneinander und gehen aufeinander zu, während sie sich voneinander entfernen.
Freundschaft Liebe Zerstörung
Doch Silvester plagen noch ganz andere Probleme, denn sein seltsames Verhältnis zu Kondor, der immer wieder aus dem Nichts aufzutauchen scheint, bekommt ihm auf kurz oder lang nicht gerade gut. Denn der auf die schiefe Bahn geratene, nicht minder eigenartige Kerl wird wieder und wieder vom kriminellen Getränkebasarinhaber Brand III und seinen “Vasallen” gezwungen, beispielsweise TÜV-Plaketten von Autos zu kratzen, damit Brand III diese auf dem Schwarzmarkt verkaufen kann. Wer nicht spurt, muss körperliche, teilweise sehr brutale Konsequenzen davontragen. Ist es richtig, Abstand von Kondor zu nehmen, da der für sein Schicksal doch eigentlich selbst verantwortlich ist? Oder muss ihm geholfen werden?
Während sowohl Merle als auch Silvester ihre Gefühlswelt in Ordnung zu bringen versuchen, durchwandern sämtliche Figuren in “Stadtrandritter” chaotische Szenarien – und inmitten all dieser unvorhersehbaren, zuweilen hektisch aufeinanderfolgenden Ereignisse braut sich etwas Dramatisches zusammen, das bereits zu Beginn der Story offenbart wird: Der Brand der Kirche. Ohnehin ist “Stadtrandritter” kein Roman, der auf ein Ende zusteuert und sozusagen die Spannung bis zu einer Explosion aufbaut – vielmehr stellt dieser Roman die Frage: Was geschieht in der Zeit davor? Warum geschieht es? Und wie ist es zu erklären? Mit Liebe? Mit Glaube? Mit Hoffnung? Mit den absoluten Gegensätzen dieser drei Dinge? Was treibt einen Menschen zu dem, was er tut? Tut man jenes letztendlich gänzlich von sich aus? Oder wird man gesteuert? Falls ja, von wem oder was? Wohin soll es gehen?
Man eifert mit: Wie kann jede Romanfigur ihr unfertig erscheinendes Leben auf irgendeine Weise wenigstens temporär komplettieren?
Warum Womit Wohin
Unzählige Fragen werden gestellt. Fragen, die weitere Fragen aufwerfen. Zahlreiche davon ohne Fragezeichen, sondern zwischen den Zeilen – und nicht selten wird dabei bewusst eine Grenze hin zu Frevel, Nihilismus und Destruktivität übertreten, allerdings völlig wertfrei. Den Figuren, die ihr eigenes Leben entwickeln, wird wie auch dem Leser komplett überlassen, ob, was, wofür und an wen er glaubt. Und für welche dieser Charaktere mit all ihren Ecken, Kanten und Eigenheiten er Sympathien empfindet und für welche nicht.
Wie bereits “Es war einmal Indianerland” hebt sich “Stadtrandritter” in puncto Struktur, Typographie und Erzählstil deutlich von der Mainstreamliteratur ab. Dies beginnt bereits bei den Kapiteln, die, angelehnt an das ritterliche Mittelalter Âventiuren genannt werden: Jede der Hauptfiguren ist eine individuelle Form des Don Quixote, mit seinen ganz eigenen Träumen, seinen eigenen Skeptikern und Widersachern, seiner eigenen Suche nach Gerechtigkeit und dem Guten, seinen eigenen Windmühlen, gegen die es zu kämpfen gilt. Weitergeführt wird das Unkonventionelle durch das eigenwillige Verschwimmenlassen der Trennlinie zwischen Metapher und Realität, besonders im ritterlichen Kontext und bezüglich des Spiels mit dem Feuer… denn zu Beginn der Story schmunzelt man über den Motorroller namens Rosinante und die Dialoge zwischen Silvester und seiner Merle von Aue. Noch. Und man ignoriert das Spielen mit Streichhölzern und Feuerzeugen. Noch. Man weiß, was kommen wird und weiß nichts. Noch.
Riechen Schmecken Fühlen
Auch hinsichtlich des Schreibstils, der roh, unverfälscht, klar und – ohne aufgesetzt oder pseudojung zu wirken – jugendlich ist, revoltiert dieses telefonbuchdicke Druckwerk völlig unplakativ gegen Standards, denn trotz des zuweilen rauen Tons bergen die Worte eine schwer definierbare Eigenschaft in sich; Beinahe ist das Hässliche schön. Oftmals sagen die Worte das eine und meinen das andere – oder gar beides zugleich. Diese Mehrsinnigkeit macht sich allerdings nicht nur im Sinne von Inhalten bemerkbar, sondern auch in Form körperlicher Sinne. Die Art, wie Mohl das Buch durch präzise, doch nie allzu mäandrierende Beschreibungen zum Leben erweckt, stimuliert auf beinahe synästhetische Weise auch die Rezeptoren des Lesers, der das Blut der geplatzten Lippe Silvesters schmeckt, die mal unangenehmen und mal angenehmen Ausdünstungen der anderen Figuren riecht und Gefühle wie Schmerz, Beklommenheit, Erleichterung buchstäblich selbst durchlebt, Temperaturunterschiede spürt und die Gerüche der unzähligen Schauplätze vernimmt. Die der muffigen Buden. Die der regennassen Luft. Einatmen, ausatmen, wahrnehmen.
Die Idee, auch “Stadtrandritter” wie einen Film zu arrangieren, funktioniert im Vergleich zum Vorgängerband fast noch besser, denn man hört die Vor- und Rückspulgeräusche, das Klicken der Stopp- und der Play-Taste, die einen während des Lesesns regelmäßig begenen, regelrecht in seinem inneren Ohr. Kopfkino im Wortsinn. Der Filmcharakter wird zusätzlich verstärkt, indem das Buch durch ein paar “Trailer” eingeleitet wird und die einzelnen Âventiuren immer wieder durch zweierlei Elemente aufgebrochen werden. Zum einen sprechen die Protagonisten in sogenannten “Making-of”-Szenen ähnlich wie Schauspieler über ihre Rollen, nur mit dem Unterschied, dass sie sich im Buch selbst “spielen”. Zum anderen werden sogenannte “nachgestellte Szenen” als “Bonusmaterial” eingestreut, die vieles erklären.
Vorwärts Rückwärts Stop
Ähnlich wechselhaft wie das anfänglich verwirrend, mit zunehmender Lesedauer jedoch immer logischer erscheinende Vor und Zurück sind auch die Perspektiven und Zeiten, in denen der komplex gestrickte und dennoch überraschend einfach lesbare 688-Seiter geschrieben ist. Teile des Buches wurden im Präsens in der dritten Person geschrieben, andere wiederum im Präteritum – dann wieder im Präsens aus Merles und teilweise Silvesters Perspektive, während sie selbst die jeweils andere Person mit “du” ansprechen. Auch die Erzählstränge Silvesters und Merles laufen nicht wirklich parallel – es entsteht durch den anfänglichen zeitlichen Vorsprung des “Fräuleins”, wie Domino Merle spöttisch nennt, praktisch eine chronologische Schieflage, die sich nur langsam wieder von selbst begradigt.
Die klassische wörtliche Rede wird – typisch für Mohl – ebenfalls wieder lediglich mit vorangestelltem Halbgeviertstrich symbolisiert, was einmal mehr etwas Gewöhnung bedarf, letzten Endes jedoch einen elementaren Bestandteil des mohlschen Schreibens darstellt, denn hierdurch fließen Dialog und Handlung weniger theatralisch, sondern deutlich filmischer ineinander, wodurch man als Leser von einer unsichtbaren Hand am Kragen gepackt und noch dichter an die Geschichte herangezogen wird, um noch mehr Einblick in Geschehen und Köpfe geboten zu bekommen. Die Tiefe, die der Roman in Bezug auf Figuren, Szenarien und Gedanken entwickelt, wird gar physisch.
Durch den strammen Griff und Zug der geschlossenen literarischen Faust wird dem Leser die Luft genommen, die dafür nötig wäre, den Roman in prägnanten, knapp beschreibenden Worten zu definieren – der Versuch, dies zu tun, fühlt sich an, als stünde man auf Puddingbeinen und solle nun eine Leiter hinaufklettern. Mit “Stadtrandritter” hat sich Nils Mohl ein Denkmal gesetzt, und die Frage, wie er beim dritten Band der Trilogie jemals über die selbst höhergelegte Querlatte springen möchte, ohne sie zu reißen, könnte durchaus berechtigt sein.
Cover © rororo/rotfuchs
- Autor: Nils Mohl
- Titel: Stadtrandritter
- Teil/Band der Reihe: Teil 2 der “Liebe-Glaube-Hoffnung”-Trilogie
- Verlag: rororo/rotfuchs
- Erschienen: 01.11.2013
- Einband: Paperback
- Seiten: 688
- ISBN: 978-3-499-21614-5
- Sonstige Informationen:
Produktseite beim Verlag
Wertung: 14/15 dpt
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