Ethan Cross – Ich bin die Nacht (Hörbuch, gelesen von Thomas Balou Martin)

Ethan Cross - Ich bin die Nacht (Hörbuch) Cover © Lübbe AudioDie hierzulande ausschließlich digital veröffentlichte, 94-seitige beziehungsweise zweieinhalbstündige Prequel “Racheopfer” fortsetzend, wird in “Ich bin die Nacht” die Story des mittlerweile aus der psychiatrischen Klinik entkommenen Serienmörders Francis Ackerman junior  weitererzählt. Weiterhin sucht er sich diverse Opfer aus – doch er tötet sie nicht einfach so, sondern spielt mit ihnen morbide Spiele, deren Einsatz das Leben ist. Suggeriert ihnen, mit dem Einsatz könnten andere Leben gerettet werden. Doch letztendlich sind es Spiele, aus denen nur er als Sieger hervor gehen wird. Zahlreiche Leichen pflastern den kreuz und quer durch die USA verlaufenden Weg des ein dunkles Geheimnis in sich tragenden Psychopathen, der seinen Opfern und Jägern stets einen oder mehrere Schritte voraus ist. Diesem Wahn wohnt der Hörer beziehungsweise Leser zunächst bei.

Gleiche Zeit, anderer Schauplatz: Marcus Williams, einst Cop in New York, hatte in seinem alten Job einen fatalen Fehler begangen und versucht im fiktiven Asherton bei Texas zur Ruhe zu kommen, doch der vorgeblich Idylle versprühende Ort erweist sich sehr bald ebenfalls als ein sozialschichtenübergreifender Pfuhl brutalster Krimineller, und es dauert nicht lange, bis er das Dorf inklusive des Sheriffs und dessen Bande gegen sich hat. Marcus hegt zu allem Überfluss Gefühle für Maggie, die Tochter des Sheriffs, und so gerät er Stück für Stück tiefer in die Bredouille. Als sich Ackermans und Marcus’ Wege dann endgültig kreuzen, dauert es nicht lange, bis Marcus realisiert, dass er sich selbst überwinden und den Dämonen in sich wecken muss, um den Serienkiller hinter Gitter oder unter die Erde zu bringen. Doch durch seine Jagd nach Ackerman bringt er nicht nur sich selbst in Gefahr.

Atmosphärisch irgendwo zwischen Andreas Eschbachs “Todesengel” (gibt es ein gutes Böse, gibt es ein schlechtes Gut?), Anthony E. Zuikers “Level 26 – Dark Origins” (Morbidität, Blut, Macht, Grausamkeit), Thomas Harris’ Hannibal Lecter-Reihe (Perfidität und Intelligenz) und einer Art Moriarty der Extreme zu verorten, erweist sich dieser Thriller einerseits als ein extrem blutiges, brutales Massaker, in welchem Tod auf Tod auf Tod folgt, andererseits als eine psychologisch hochintelligente, beinahe das Potenzial einer Kriminalfallstudie aufbringende Situationskette, in welcher man trotz der Grausamkeit, mit der Ackerman vorgeht, Respekt vor der Durchdachtheit seines Tuns aufbringen muss. Die Art und Weise, mit der er seine Macht ausübt und seine todbringende Spur verschleiert oder gar verwischt, dürfte beinahe als genial bezeichnet werden. Doch wie nahe Genie und Wahnsinn beieinander liegen können, offenbart sich während des Storyverlaufs in einigen Schlüsselsituationen. Man fürchtet und hasst ihn, doch schizophrenerweise bewundert man ihn auch, ungeachtet des Gewahrseins, welch hochgefährliche Waffen seine Intelligenz und seine Skrupellosigkeit sind.

Es entsteht durch den Neugier weckenden Klappentext schnell der Eindruck, hier drehe es sich ausschließlich um Frances Ackerman junior und die Jagd nach ihm, doch mit zunehmender Zeit wird klar, dass der Killer nicht der einzige Protagonist ist, denn mit zunehmender Dauer und der Offenbarung, warum jeder tut, was er tut, wird der Fokus immer mehr auf  Marcus Williams’ Figur gerichtet – es findet praktisch ein Protagonistentausch statt. Doch nicht nur dies überrascht, denn in “Ich bin die Nacht” ereignen sich derart viele Wendungen, die zuweilen absurd erscheinen, dass beinahe Schwindelgefühle entstehen, und nicht selten fragt man sich, was “das alles” eigentlich soll. Immer wieder beschleicht einen das Gefühl, der Plot der Story springt, unberechenbar wie ein Knallfrosch, hin und her.

“Ich bin die Nacht” ist letztendlich ein Thriller, der Grenzen konsequent ignoriert und die Dimensionen des Vorstellbaren gern auch sprengt, und zahlreichen Anhängern des gut und gerne auch mal heftiger ausfallenden Gemetzels und extremster psychischer Folter in literarischer Form mag einiges zu sehr an den Haaren herbei gezogen und zu abstrus erscheinen, zu konstruiert krank, doch die Intention des unter Pseudonym aktiven Autors dürfte wohl kaum gewesen sein, nach Normen oder Schablonen zu schreiben. Dieses (Hör-)buch ist schlichtweg extrem, in fast allen Belangen – doch stets mit gutem Stil, packenden Twists und einem fürwahr wahnwitzigen Finale.

Für die Hörbuchversion wurde – wie bereits bei “Racheopfer” – Thomas Balou Martin als Sprecher auserkoren. Der Hörbuchanhänger wird ihn möglicherweise bereits aus Frank Schätzings “Der Schwarm” oder Marcello Simonis “Der Händler der verfluchten Bücher” kennen, und auch Freunde des Hörspiels dürften über seine markante Stimme gestolpert sein. Im Fernsehen moderierte er mehrere Jahre lang die Ratesendung “Dings vom Dach”, ist bei n-tv als Doku-Sprecher aus dem Off zu hören und steht seit Mitte der Neunziger regelmäßig in Spielfilmen und Serien vor der Kamera, so etwa in diversen “Tatort”-Folgen, einzelnen “SOKO…”-Ablegern, “Nesthocker” oder “Der Landarzt”. Trotz des doch sehr ‘bärigen’ Organs gelingt es Martin jedoch ohne Probleme, den Charakteren eine ureigene Stimme zu leihen.

Es ist ein Genuss, wie er die knurrigen, brummigen Personen zum Leben erweckt, doch auch die Exzentrik und das Irre in Ackerman, das mitunter Verzweifelte in Marcus, des Sheriffs Unberechenbarkeit oder das eigenartige Verhalten Maggies werden glaubwürdig zu Mikrofon gebracht. Es dauert zwar durchaus ein wenig, bis sich die Ohren mit dem teilweise heftig rumpelnden Kehlkopf des Sprechers synchronisiert haben, doch bereits nach der ersten CD fällt es schwer, sich eine andere Stimme als die Thomas Balou Martins für “Ich bin die Nacht” vorzustellen, zumal der gebürtige Stuttgarter seine Arbeit mit hörbarer Begeisterung ausübt.

Das im Original “The Shepherd” benannte Werk ist in seiner deutschen Hörbuchform zwar sonderbar, aber fasziniert durch sein Gesamtes. Sein krankes, spannendes, wahnsinniges, komplexes, verworrenes, clever arrangiertes und beklemmendes Gesamtes.

Cover © Lübbe Audio

Wertung: 13/15 dpt

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