Christian Demand (Herausgeber) – Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Gesellschaft


Merkur - Ich © Klett-Cotta“Ich kann jeder sagen” – unter diesem Titel erschien vor einigen Jahren ein Band mit Erzählungen des österreichischen Romanciers und Essayisten Robert Menasse. Es ist sicherlich unredlich unter einen Roman oder einen Erzählband einen Strich zu ziehen und zu exklamieren, dem Autor sei es um diese oder jene Sache gegangen und – noch schlimmer – er habe uns dieses oder jenes sagen wollen. Und doch lässt sich als Grundthema des Erzählungsbandes herausziehen, dass die Zeit der selbstmitleidigen Selbstbeschau vorbei sein dürfte und sich Menschen, Peer-Groups, Staaten, Religionsgemeinschaften mal wieder um ein “wir”, also auch um die Integration ihrer selbst in die große weite Welt bemühen sollten. Wie das funktionieren sollte? Nun, dazu kann man entweder Menasse lesen oder sich die Oktober/November Doppelausgabe der Zeitschrift “Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken” zu Gemüte führen. Der Titel dieser Ausgabe trägt den schmissigen Titel “Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Welt”.

“Endlich ich” – selten ehrlich hat eine Bank ihr Selbstverständnis herausposaunt. Vielleicht waren die Verantwortlichen dieser Bank geschlossen in psychiatrischer Behandlung und haben die Schule der “Ich-Botschaften” allzu wörtlich und unreflektiert übernommen? Ich Ich Ich – vor lauter Ich-Botschaften und emotionalen Selbstkasteiungen oder Selbstbeweihräucherungen vergisst man recht schnell, dass es außer dem Ich auch noch andere Menschen gibt, die sich sicherlich auch für den Gemütszustand der Ich-Botschafters interessieren – aber irgendwann will man ja auch weitermachen und weiterkommen. Und die Evolution hat nun mal empirisch nachweisbar gezeigt, dass für die Gattung Mensch die Gemeinschaft doch die überlebensfreundlichste Umgebung und Lebensform ist. Also führt kein Weg vorbei: der Mensch, ein Gemeinschaftswesen. Das Runde muss ins Eckige – das “Ich” muss ins “Wir”.

Und genau diese Schwierigkeiten dieser Aufgabe zeigen die hier versammelten Aufsätze ganz eindringlich und unter unterschiedlichsten Blickwinkeln zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen. Wie und warum entstehen Freundschaften – und inwiefern unterschieden sich philosophisch und emotional Freundschaften von geschäftlichen Partnerschaften? Ja, auch auf eine so vermeintlich einfache Frage gibt es überraschende Antworten. Von großer erzählerischer Verve ist Thomas E. Schmidts Beitrag zur “Szenenbildung Anfang der Achtziger” – ja, auch die trockensten Themen lassen sich unverkrampft und mit großer Fabulierfreude vermitteln. Natürlich gibt es hier auch Aufsätze und Beiträge, die weniger inspiriert und noch weniger inspirierend sind, so die Frage, ob schon die Nazis von einem geeinten Europa geträumt haben und wie sich dieses Faktum auf die aktuelle Europa-Diskussion auszuwirken habe – das ist freilich fleißigst zusammengetragenes Quellenmaterial, unterfüttert mit einer typisch deutschen Aufgeregtheit und journalistischer Schreibe: Nabelschau. Dennoch: Das stilistische Niveau der Aufsätze ist hoch und in der Tradition des “Merkur” von einer beeindruckenden Gedankendichte und -tiefe.

Sicherlich gehören die Ausgaben des Merkur nicht zu den Publikationen, die man locker in einem Rutsch durchlesen wird. Ganz bestimmt wird diese Rezension nur die wenigsten dazu animieren, sich eine Zeitschrift zu kaufen, deren aktuelle Ausgabe “Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Welt” heißt – empfohlen sei dies aber dennoch! Denn es mag Phasen im Leben eines Lesenden geben, in denen man sich auf eine diskursive meta-Ebene begeben möchte – sich einfach mal mit gesellschaftlichen, politischen, philosophischen, anthropologischen und psychologischen Fragestellungen und den Antworten aus wissenschaftlich fundiertem Munde auseinandersetzen möchte. Dann gehört der Merkur aus dem Hause Klett-Cotta – unabhängig von dieser hier vorgestellten Ausgabe – zu den besten Adressen und als verlässliches Sammelbecken zumeist scharf- wie feinsinniger Beiträger. Ganz bewusst gehören hier Widerspruch und die kritische Auseinandersetzung dazu. Das, was in unserer boulevardesken Hysterie immer gleich zum “Zoff”, “Streit” oder “Eklat” mutiert, ist doch im Grunde nichts anderes als Ausweis des aufmerksamen Aufeinander-Hörens und des argumentativen Aufeinander-Eingehens. Dass auch heftige Diskussionen vorprogrammiert sind, das hat ganz ursächlich mit dem “Ich” und dem “Wir” zu tun: Beide, sowohl das Individuelle als ja auch das Gemeinschaftliche leben von ihrer Grenze, ihrer Abgrenzung gegenüber anderen Individuen oder Gruppierungen. Das “Ich” muss also stark und ausgeprägt sein, denn ein gesundes “Wir” hat nichts mit einer Gleichmacherei zu tun, sondern lebt vom Austausch und der Auseinandersetzung möglichst vieler “Ichs”, die aber nicht verlernt haben, dass das Selbst auch immer von und durch ein gesellschaftliches Engagement ermöglicht und geprägt wird. Und an dieser Stelle käme die immer wieder schöne Diskussion zum Zuge, ob es wahren Altruismus überhaupt geben, ob der Mensch sich wirklich von seiner “first nature” wirklich emanzipieren könne, da immer auch jeder Selbstverzicht und jede Selbstbeschränkung immer bewusst oder unbewusst auf einen mittel- oder langfristigen Vorteil aus ist.

Dies führt an dieser Stelle wohl etwas zu weit – und so schließt diese Rezension, übrigens wie auch die vorliegende Ausgabe des Merkur mit dem Hinweis auf Franz Kafka und seine Parabel “Gemeinschaft” aus dem Nachlass. Auch wenn die zumeist klugen und weisen Essays und Aufsätze eine Inspirationsquelle darstellen, so zeigt doch auch diese Zeitschrift, dass es der Literatur obliegt, mit ihren hermeneutisch, literarisch verschlossenen Texten die Welt zu “erklären” – und zwar mit jedem neuen Lesen und mit jedem Leser immer wieder neu. Denn ohne allzu sehr den Konstruktivismus bemühen zu wollen, Individuen und Gemeinschaften leben von ihren “Selbstkonzepten”, ihren “Firmenphilosophien” und Ursprungsgeschichten, in denen die Bedingungen ihrer Konstition verankert sind – auch auch immer wieder neu interpretiert werden sollten, müssen und vor allem auch dürfen.

Cover © Klett-Cotta

Wertung: 10/15 dpt


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