Inwiefern beeinflusst das Leben unserer Eltern und Großeltern unser eigenes Leben? Wie wichtig ist Erinnerung? Und sind Ereignisse des kollektiven, historischen Gedächtnisses womöglich noch weit schwieriger in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren als solche, die heimlich und unbemerkt hinter geschlossenen Türen geschehen? Unbestritten steht “Auschwitz” heute synonym als Mahnmal für die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Viele Texte haben sich bisher in mannigfaltiger Weise mit diesem Thema beschäftigt, Zeitzeugen haben berichtet. Primo Levi schildert in “Ist das ein Mensch?” seine ganz persönlichen Erfahrungen im Konzentrationslager, Imre Kertész näherte sich in “Roman eines Schicksalslosen” weit belletristischer diesen kaum fassbaren Erlebnissen. Immer jedoch waren die Schreibenden auch direkt betroffen, in die Ereignisse unmittelbar involviert. Sie berichteten, was sie oder Familienangehörige und Freunde erlebt hatten.
Michel Laub, in Brasilien ein sehr erfolgreicher und bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Autor, hat sich entschieden, aus der Perspektive eines Enkels zu berichten, eines Nachgeborenen, der auf den ersten Blick mit Auschwitz, der Judenverfolgung und dem Krieg wenig direkte Berührungspunkte hat. »Was können wir für das, was vor sechzig Jahren geschehen ist?« ist eine Frage, die in heutigen Gesprächen gern den Schlusspunkt eher fruchtloser Diskussionen bildet und die Auseinandersetzung darüber, wie uns das, was geschehen ist, auch heute noch beeinflusst, in eine Debatte über Schuld verwandelt. Das “Tagebuch eines Sturzes” ist tatsächlich auch in Tagebuchform abgefasst. Kurze, im Stil eines freien Gedankenflusses abgefasste Schilderungen erzählen die Familiengeschichte dreier Generationen. Dreier Menschen, über denen noch immer der Schatten von Auschwitz schwebt.
Der namenlose Ich-Erzähler wird durch seinen Vater mit Aufzeichnungen seines Großvaters vertraut gemacht, Skizzen darüber, »wie die Welt sein sollte.« Der Vater ist an Alzheimer erkrankt, erst das drohende Vergessen ermöglicht ihm die Erinnerung. Der Großvater war in Auschwitz gewesen und durch glückliche Fügung gelang ihm die Flucht nach Brasilien. Er sollte niemals darüber sprechen, was er dort gesehen und erduldet hatte, stattdessen führte er ein Heft, in das er säuberlich Definitionen von Dingen einschrieb, wie sie sein sollten. Das Alltäglichste begann er in seine Bestandteile zu zerlegen, zu analysieren, wieder zusammenzusetzen, um an ihm Halt zu suchen. Wer auf schwankendem Boden noch immer mitten in der Katastrophe lebt, klammert sich an grundlegende und einfache Dinge. Immer öfter und länger hält der Großvater des Erzählers sich in seinem Arbeitszimmer auf, bis seine Frau ihn eines Tages zusammengesunken auffindet. Tot. Unfähig, jemals das in Worte zu fassen, was ihn eigentlich umtrieb.
Das wirkt sich auf den Vater des Erzählers aus und dadurch auch unmittelbar auf ihn. Ein liebevolles und harmonisches Familienleben wird stets überschattet von diesem erlittenen Elend, von dieser Ur-Katastrophe. Michel Laub gelingt es nicht nur, psychologisch sehr geschickt herauszustellen, wie diese Nicht-Erwähnung immer weitere Kreise zieht, sondern wie auch die Außenwahrnehmung der Ereignisse die Wahrnehmung innerhalb der Familie prägt. Er rührt an unangenehme Fragen. Wie sehr kann Auschwitz Rechtfertigung sein, für die Weitergabe von Leid? Sind diese Erfahrungen geeignet, sich als Jude darüber zu definieren? Und inwiefern mache ich mich selbst schuldig? Wozu bin ich selbst fähig?
Der titelgebende Sturz des Romans bezeichnet, neben der familiären Instabilität, auch den lebensgefährlichen Sturz eines Mitschülers des Erzählers, den der wissentlich mitverschuldet hat. Michel Laub hat einen intelligent konstruierten Roman über Selbstbestimmung und Identität geschrieben, über Schatten der Vergangenheit, die man überwinden lernen muss, um sich selbst eine Zukunft zu ermöglichen. Wer glaubt, dass keine neuen und anregenden Perspektiven mehr möglich sind, wenn es um jüdische Vergangenheit und den Zweiten Weltkrieg geht, der wird von Michel Laub eines Besseren belehrt. Ein Roman, der trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Nüchternheit zum Denken und zur Auseinandersetzung damit anregt, was uns prägt und wie wir uns trotz solcher Prägung ein lebenswertes Leben erschließen.
Cover © Klett-Cotta
- Autor: Michel Laub
- Titel: Tagebuch eines Sturzes
- Originaltitel: Diário da Queda
- Übersetzer: Michael Kegler
- Verlag: Klett-Cotta
- Erschienen: 23.08.2013
- Einband: Gebunden, mit Schutzumschlag
- Seiten: 175
- ISBN: 978-3-60893-972-9
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 dpt