Jan Brandt – Gegen die Welt (Buch)


Jan Brandt - Gegen die Welt (Buch) Cover © DuMont Buchverlag“Gegen die Welt” ist ein Roman der Gegensätze, ja gar der Widersprüche. Das beginnt bereits mit der Optik, denn beim Anblick des backsteinschweren Buches erwartet man zwar einen umfangreichen Roman, doch damit, dass dieser Umfang die weit über neunhundert gedruckten Seiten in einem solch hohen Maß übersteigt, war wohl kaum absehbar. Nicht in solchen Dimensionen. Auch inhaltlich ergibt sich ein durch das Cover (bewusst? unbewusst?) perfekt dargestelltes Zerrbild, denn es passiert einerseits nichts und doch so viel, der Protagonist ist gleichzeitig die wichtigste und unwichtigste Figur, das Leben geht weiter, steht still und rauscht dennoch rasant an einem vorbei.

Der Leser begleitet den in den Mittsiebzigern geborenen Daniel Kuper, der in dem fiktiven ostfriesischen Dorf Jericho lebt. Die Landwirtschaft nahe dieses Kaffs ist noch halbwegs intakt, und in den Straßen existieren noch zahlreiche Familienbetriebe. Auch der Name Kuper ist für das Dorf von großer Bedeutung, denn Daniels Vater Bernhard “Hard” Kuper leitet die an ihn weitergegebene “drogerie kuper” souverän – es gibt kaum einen Drogerieartikel, den Hard nicht verkauft oder seinen treuen Kunden zu besorgen in der Lage ist. Zumindest glaubt er fest daran, einen Status der Unverzichtbarkeit innezuhaben.

Daniel Quixote oder: Am Anfang war das störende Staubkorn

Die Menschen sind geistig überwiegend einfach gestrickt, und so erlebt Daniel eine Welt der Oberflächlichkeit, der Belanglosigkeiten, der Dorfmentalität, des Funktionierens und schlechter Witze, die ihm bereits im Kindheitsalter zuwider ist. Durch seine introvertierte Art, sein eigenständiges Denken, seine ausgeprägte Phantasie und seine vermeintliche Sturheit wird er im Ort – sowohl in der Schule als auch in der Nachbarschaft, ebenso zu Hause – als Sonderling angesehen. Zwar knüpft er immer wieder Freundschaften, jedoch sind es solche, die nie gewöhnlich sind – eher erweisen sie sich als kompliziert, komplex, wacklig und teilweise auch als existent und doch nicht existent. Für Daniel scheint es kaum möglich zu sein, so, wie er ist, einen Fuß in irgendwessen Tür zu bekommen.

Als sich während des Sommers überraschender Schneefall ereignet und in einem Maisfeld ein Kornkreis entsteht, wird Daniel halbnackt und verwirrt aufgefunden, die Presse nimmt das Gerücht der Besuch außerirdischer Lebensformen sensationslüstern auf, und fortan hält man den jungen Kuper für einen verrückten Spinner, der anfangs hinter vorgehaltener Hand, später öffentlich verspottet wird. Später finden sich an Hauswänden Hakenkreuze wieder, Schüler stellen sich rätselhafterweise auf Bahngleise, und hier und dort wird Vandalismus begangen. Obwohl Daniel hierfür nicht verantwortlich zeichnet, ist er es, den man stets zuerst verdächtigt – der Ruf des irren Querkopfes, definierbar als eine Art dunkellauniger, moderner Don Quixote de la Jericho, haftet ihm an, und bald muss auch seine Familie unter den Vorurteilen der anderen leiden.

Denn je mehr Daniel sich gegen die Vorwürfe und Verdächtigungen wehrt, desto mehr wird er in den Sog des Misstrauens hineingerissen. Jedes negative oder sonderbare Ereignis wird langfristig auf ihn zurückgeführt, jeder weitere Schritt zur eigenen Verteidigung bringt ihn nur noch mehr in die Bredouille und letztendlich der persönlichen Niederlage, dem eigenen Scheitern als Mensch, Stück für Stück näher. Daniel hat die Welt gegen sich. Träume sind nur weitere unfreiwillige Selbstzerstörung. Der Kampf für Besserung resultiert stets im Gegenteil, denn die kollektive Naivität und Dummheit ist das alles verpestende Gift, dessen Gegengift aus Daniels Mund und Tun verheerende Nebenwirkungen mit sich zieht. Doch nicht nur er selbst hat ernsthafte Probleme, er selbst zu sein und zu bleiben, sondern einige andere Personen aus seinem Umfeld – so etwa der mathematisch höchstbegabte Stefan, der sich immer mehr in seinem wissenschaftlichen und technischen Kosmos verliert, Onno, der seine Zukunft im Heavy Metal sieht, der übergewichtige Volker, der verzweifelt Anschluss sucht oder die sehr auf Political Correctness bedachte Simone. All sie verbindet im Grunde das Einzigartige und auch Visionäre, allesamt sind sie verkappte Alonso Quijadas – und während manche ihren Weg gehen und als Zahnrad in der Gesellschaftsmaschinerie einrasten, müssen sich andere immer wieder bücken und die schweren, ihren Pfad blockierenden Steine beiseite wuchten – und drohen daran und an sich selbst zu scheitern. Steine, die andere ihnen in den Weg gelegt haben – oder sie selbst. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Aus den Sandkörnern werden Kieselsteine werden Pflastersteine werden Brocken werden Felsen werden Berge werden Gebirge werden Kontinentalplatten wird die gesamte Erdkugel. Die Welt wird zur endlosen “boss battle”.

Mehr als Retroromantik…

Enorm detailreich und sehr nah am Leser lässt uns der norddeutsche, 1974 geborene Autor in die damalige Dorfwelt abtauchen – und nach einiger Zeit wähnt man sich beinahe selbst als stiller, beobachtender Einwohner Jerichos, weiß, wo sich welches Geschäft befindet und lernt die einzelnen Charaktere wie Freunde und Bekannte kennen – würden einige unkundige Charaktere aus dem Buch heraus den Leser Dinge über das Dorf und seine Menschen fragen, so wüsste der das Buch Haltende durch seine gebündelte Kenntnis sehr bald, was er wem zu antworten hätte. Diese gebündelte Kenntnis verdankt der Leser der geschickt mehrgleisig arrangierten Erzählweise. Man bekommt nämlich nicht nur die in der dritten Person erzählte Geschichte aus der Perspektive Daniels präsentiert, sondern ebenso Einblicke gewährt in Szenen, in welchen das Elternpaar unter sich ist, Freunde ohne Daniel unterwegs sind, oder Szenen mit scheinbar  Unbeteiligten.

Entspringt man selbst derselben Generation wie der Autor, so wird man einige Déjà-vus erleben – das Erblühen des Heavy Metal, die ersten Computer, das Aufkeimen der Neonaziszene und der schleichende Tod der Familienbetriebe durch den aggressiven Vormarsch der Ketten und Konzerne. Doch “Gegen die Welt” ist keinesfalls eine Retroshow zwischen Schwelgen und Schaudern, die den Leser zu einem »Ja, das war geil!« oder zu einem »Ahh, schlimm war das!« animieren soll – vielmehr handelt es sich schlichtweg um einen Roman, der sehr detailgetreu wiedergibt, wie es in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten des vergangenen Jahrtausends gewesen war – wenn auch mit kleinen ulkigen Fehlern, da einige Begriffe und Redewendungen enthalten sind, die seinerzeit noch nicht bekannt waren.

…und mehr als Coming of Age

Diesen Roman könnte man oberflächlich als eine Coming of Age-Story eines Losers einordnen, doch das wäre zu kurzsichtig gedacht und würde diesem Buchstabenmonstrum kaum gerecht werden. Denn hat man sich erst einmal durch diesen imposanten Wälzer hindurchgepflügt, erweist sich “Gegen die Welt” als ein Epos der gesellschaftlichen Inkompatibilität und selbst geschaffener Paralleluniversen. Paralleluniversen als Flucht vor der Realität. Als Zufluchtsort, hin zu etwas Besserem. Eskapismus als Therapie. Doch dieser Eskapismus ist nicht für jeden der einzelnen Charaktere mit positiver Änderung oder Linderung der Um- und Zustände verbunden, sondern mit genau dem Gegenteil: Mit der Einbahnstraße ins persönliche Verderben, gen Verfall – Realitätsverlust statt Realitätsflucht.

Wenngleich der Roman eher die seelischen und gesellschaftlichen Abgründe inklusive all ihrer frustrierenden Belanglosigkeiten behandelt und die Grundstimmung eher trist, düster und negativ gefärbt ist, wird man immer wieder von kleinen Anflügen des Schmunzelns heimgesucht, denn Brandt flicht in seinem Debüt extrem feinsinnig eine sehr eigenwillige und subtile Art des Humors ein, die einen willkommenen Kontrast zur “personal downward spiral” der Hauptfigur darstellt und durch die versteckte Pointiertheit nichts von alledem verlächerlicht, was sich ereignet.

Literaphilosophinspiration und zerebrale Nachwehen

Immer wieder – so stellten auch einige Schreiberkollegen im Pressedschungel fest – offenbaren sich Passagen oder Charakteristika, bei denen man meinen könnte, Brandt hätte auch Literatur von Mark Z. Danielewski (hinsichtlich Typographie und Experimentierfreude, wenn auch in dezenterer Form) und David Foster Wallace (hinsichtlich der stark ausufernden Abschweifungen) im heimischen Buchschrein stehen. Gerade der Danielewski-Faktor ist fast unleugbar, wie es sich in den (absurden) Briefen an Gerhard Schröder oder etwa Dirk Schmidt (BND) inklusive handgeschriebener Ergänzungen äußert, ebenso in Spielereien mit Schriftarten und Schriftsatz sowie in einem längeren Teil des Buches in Form des zeitweisen und wiederkehrenden Verblassens der Schrift in nahezu unlesbares Hellgrau. Über rund einhundertfünfzig Seiten des Romans gabelt sich die Erzählung zudem und verläuft, durch zwei Linien (symbolisch für Eisenbahngleise?) getrennt, doppelgleisig.

Gelegentlich lassen sich – rein subjektiv empfunden – auch ein paar Parallelen zu den Arbeiten Nils Mohls und Wolfgang Herrndorfs ausmachen, was die Grundstimmung und Stilgrundzüge betrifft. Wie bei den genannten Autoren teils stärker, teils weniger stark ausgeprägt aber dennoch präsent, besitzt Jan Brandts Art des Erzählens immer wieder stark philosophische Züge und birgt einige Sätze in sich, die man sich am liebsten sofort ausdrucken und an die Wand rahmen möchte.

Schließt man den hinteren Buchdeckel, so wird man nach dem Gefühl der “Geschafft!”-Erleichterung von einer Woge der intensiven Eindrücke, die wieder emporkochen, überwältigt. Sie erschlagen. Sie plätten. Sie nehmen einem die Luft und lassen die Gedanken wie beim Autoscooter wild durcheinander umherwirbeln und miteinander kollidieren. Reibung, Entladung. Seelendefibrillator.

Cover © DuMont Buchverlag

Wertung: 14/15 dpt


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