In einer Flughafenbar bei Toronto treffen vier sehr unterschiedliche Menschen aus den verschiedensten Gründen aufeinander. Dort arbeitet der trockene Alkoholiker Rick als Barkeeper und wird tagtäglich mit seiner Sucht konfrontiert. Er, dessen Leben eher von Rückschlägen als von Glücksmomenten gezeichnet ist, glaubt, sich durch seinen Job ein wenig Geld zusammensparen zu können, damit er bald durch Motivationstraining wieder ein wenig mehr Antrieb und Lebensfreude findet.
Die sich oftmals in Gedanken verlierende, diese Gedanken konsequent weiterspinnende Enddreißigerin Karen hingegen ist einmal quer durch die Staaten gejettet, um in genau dieser Bar ein im Internet kennen gelerntes Blind Date namens Warren zu treffen – warum sie so etwas Wahnsinniges tut, weiß sie selbst nicht. Der Pfarrer Luke hat beschlossen, sich in jener Location erst einmal zahlreiche Gläser Whiskey zu genehmigen und sein Leben neu zu überdenken, denn in einem Moment der Erleuchtung hat er den Glauben an Gott verloren, der Kirche den Rücken zugewandt und sich dabei die kompletten 20.000 US-Dollar aus der Spendenkasse unter den Nagel gerissen. Auch die junge Rachel, fast schon wieder auf dem Sprung, befindet sich in der Bar und versucht dort, endlich einen Mann zu finden, der sie schwängert, denn dadurch möchte sie sich und ihrem Vater beweisen, dass sie auch ein normaler Mensch ist – sie “leidet” unter einer Form des Autismus: Sie kann keine Emotionen verspüren, versteht keine Metaphern und keinen Humor, kann sich Gesichter nicht merken und ist dem Wahnsinn nahe, wenn beispielsweise die Speisen falsch temperiert sind, farblich nicht zusammen passen, einander berühren – oder wenn etwas schlichtweg nicht “richtig” für sie ist. In Musik oder Kunst im Allgemeinen erkennt sie keinen Sinn. Als fünfte “Person” ist der sogenannte “Spieler Eins” anwesend, dessen “Identität” am Anfang des Romans preisgegeben wird.
Urplötzlich taucht von irgendwo ein Scharfschütze auf und erschießt Warren vor der Bar – doch das ist erst der Anfang, denn aus der Ferne breitet sich eine gigantische Giftgaswolke in Richtung Bar aus. So bleibt den dort Verbliebenen und noch Hinzukommenden nichts anderes übrig, als zum eigenen Schutz in ihr zu bleiben. Im Inneren der Bar verfolgen sie in den Medien, wie die Ölpreise in schwindelerregende Höhen steigen und einen katastrophalen, zerstörerischen Stillstand der Zivilisation nach sich ziehen werden. Diese Situation bringt Karen, Rachel, Luke und Rick an ihre persönlichen Grenzen, und in dieser Zwickmühle auf engem Raum wird so mancher offenbaren, wie er wirklich tickt.
Der Roman ist in fünf Teile plus Legende aufgeteilt, wobei ein Teil eine Stunde darstellt, in welcher jede der vier Hauptfiguren plus Spieler eins in je eigenen Kapiteln beleuchtet wird- Luke und die anderen drei in der dritten Person, Spieler eins aus der Ich-Perspektive. Diese diversen Blickwinkel sorgen leserseitig für enorm multitexturelle Wahrnehmungsmöglichkeiten, und sofern man über eine ausreichend empathische Ader verfügt, kann man sich durch die sehr feinfaserige Erzählweise Couplands enorm gut in die jeweiligen Figuren hineinversetzen, sodass man schnell versteht, wann sie warum wie handeln.
An manchen Stellen könnte man durchaus glauben, dass dieses Buch eigentlich eine wissenschaftliche Psychologie-Arbeit hätte werden sollen, in welcher anhand einer fiktiven Fallstudie das Verhalten diverser Personen beobachtet und analysiert wird – und die nun zu einem Roman umgeschrieben wurde und die äußeren Eindrücke nach innen gestülpt wurden – und das zerebrale Innenleben der Figuren im Gegenzug nach außen. Die Gedankenwelt der Protagonisten wird mit einer beeindruckenden Intensität vorgetragen, und hierbei gelingt es dem Autor meisterhaft und in multiplen Ebenen, das Menschsein, das Denken, Werte, Gott und den Glauben zu hinterfragen, indem er alles auf einmal auf dem Boden zerschellen lässt und der Leser nun aus den daliegenden Scherben sein eigenes Gebilde zusammenbauen darf. Scherben in Form philosophischer Gedanken. Scherben in Form offener, überraschender Fragen. Scherben in Form aufgezeigter toter Blickwinkel.
Immer wieder erwischt man sich als Beobachter dabei, wie man nach dem Lesen eines bestimmten Satzes oder Absatzes erst einmal vom Buch aufschaut und das gerade Gelesene wirken lassen muss – und in seinem eigenen Kopf einige dieser geschriebenen Passagen weiterdenkt. Im Kopf öffnen sich Türen, es schließen sich andere. Man stellt sich Fragen, die man sich nie zu stellen geglaubt hätte. Und das ist etwas, in dem Coupland ein Meister seines Fachs ist: Er unterhält einerseits seine Leser mit einer spannenden, zuweilen auch sonderbaren Geschichte, beschäftigt sie andererseits jedoch parallel und bereichert deren Denkapparat, sodass man stets einen Mehrwert aus der Lektüre erhält.
Eine Eigenschaft besitzt dieses Buch zudem wie kaum ein anderes zuletzt erschienenes: Auf fast jeder zweiten oder dritten Seite findet sich etwas, das man am liebsten überall zitieren würde, es sich ausdrucken oder aufschreiben und dann eingerahmt an die Wand hängen möchte. Ferner ist der Roman eine extrem intelligente, beinahe multiversale Verschachtelung dessen, dass sich gewisse Prozesse – Aufbau und Verfall, Katastrophen und Lichtblicke – parallel in den unterschiedlichsten Dimensionen ereignen, sowohl in Raum als auch in Zeit.
Cover © Tropen/Klett-Cotta
- Autor: Douglas Coupland
- Titel: Spieler eins – Roman in 5 Stunden
- Originaltitel:
PLAYER ONE. What Is To Become Of Us. A Novel In 5 Hours
- Übersetzer: Clara Drechsler
- Verlag: Tropen/Klett-Cotta
- Erschienen: 24.10.2013
- Einband: Gebunden, mit Schutzumschlag
- Seiten: 246
- ISBN: 978-3-608-50114-8
- Sonstige Informationen:
Produktseite beim Verlag
Wertung: 13/15 dpt
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