Sensenmann Harold hat es nicht einfach. Tagtäglich bekommt das in ein lässiges schwarzes Gewand gehüllte und verschiedenfarbig beschuhte Skelett neue Aufträge via Smartphone geschickt, um mit dem Schmetterlingsnetz Seelen gerade Verstorbener einzufangen und diese sicher in Gurkengläsern zu konservieren, damit sie ins Jenseits transportiert werden können, denn ansonsten werden diese umherschwirrenden Seelen irgendwann zu herumspukenden Geistern, derer auf der Welt es ohnehin genug gibt. Selbst nach fünfhundertzwanzig von 999 abzuleistenden Dienstjahren hat er sich noch immer nicht an seinen einerseits langweiligen, aber dennoch stressigen Job gewöhnt. Kaum Urlaub, schlechte Vergütung – aber immerhin etwas zu tun. Da muss man als Skelett schon mal auf ein wenig Lebensqualität verzichten.
Nachdem seine Eltern sich aus dem Staub gemacht haben, wohnt der elfjährige Otto im Haus seiner Tante Sharon im Radieschenweg. Er war schon immer ein wenig anders als seine Altersgenossen, denn während die es bevorzugen, am Computer zocken oder vor der Glotze abzuschimmeln, liest er lieber gruselige Geschichten und beobachtet mit seinem Fernglas die Nachbarn. Außerdem hegt er ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen drei Hausgeistern, und sein Haustier ist Vincent, eine über dreihundert Jahre alte Geisterfledermaus, die sprechen kann. Die beiden sind einerseits die dicksten Kumpels, andererseits ist Vincent furchtbar launisch und aufmüpfig, was das Miteinander zuweilen erschwert.
Eines Abends verlaufen seine Beobachtungen nicht wie gewohnt, denn der alte Nachbar Mr. Olsen, dessen Tage stets denselben Ablauf haben, kippt plötzlich aus heiterem Himmel um, mitten ins Radieschenbeet – und Otto wird klar, dass der ein wenig verschrobene Nachbar gerade gestorben ist. Otto kümmert sich um Hilfe, doch das Fahrzeug, das auf einmal vor Mr. Olsens Garten steht, kann unmöglich diese Hilfe sein. Nein, hier stimmt etwas nicht. Absolut nicht. Und so begegnen Otto, Vincent und bald auch Ottos beste Freundin Emily bald dem Sensenmann Harold. Der erweist sich als recht schräger, aber netter Zeitgenosse – und kommt genau richtig, denn plötzlich sind Ottos Hausgeister spurlos verschwunden. Klare Sache: Otto, Emily, Vincent und Harold müssen der Sache auf den Grund gehen und herausfinden, wer dahinter steckt – und dem Ganoven das Handwerk legen.
Anders als bei zahlreichen anderen Kinderbüchern für Kids ab zehn Jahren wird in “Scary Harry – Von allen guten Geistern verlassen” auf pädagogische Ansätze und erhobene Zeigefinger gepfiffen, und zwar komplett. Stattdessen erzählt die österreichische Autorin in diesem schick gestalteten, über zweihundertseitigen Hardcover-Buch mit Prägedruck eine lustig-gruselige Phantasiegeschichte mit hohem Coolnessfaktor, die angenehm unverkrampft daherkommt. Dabei begibt sich die Schriftstellerin auf Augenhöhe mit ihrer Leseklientel und verkünstelt sich nicht in verkindlichten Formulierungen, für die die Zielgruppe ohnehin schon zu groß ist – und auch die Formulierungen wirken niemals gezwungen, sondern schlichtweg aus dem Bauch heraus, kumpelhaft nah bei dem, der die Geschichte erzählt bekommt.
Besonders die vielseitigen originellen Charaktere bereiten hier eine Menge Lesespaß – speziell die rotzfreche, ständig fluchende und enorm flapsig daherredende Fledermaus Vincent sowie natürlich der wunderbar verpeilte Harold sind natürlich die absoluten Stars, doch auch bei der Schöpfung der anderen Figuren wurde – bewusst oder unbewusst – ein Antistatement gegen biedere Kinderliteratur gesetzt. Hier und dort fühlt man sich hinsichtlich Atmosphäre, Machart und Frechheitsfaktor durchaus an Jamie Thomsons “Dark Lord”-Reihe erinnert, wobei Kaiblinger allerdings ihren komplett eigenen kreativen Weg geht.
Inmitten der Action und des Bombardements der flotten Sprüche ereignet sich am laufenden Band Situationskomik, und ganz gleich, wie skurril, absurd, bekloppt und albern es wird – nie ufert es in Sinnfreie aus, sondern ist stets der Story dienlich. Zuweilen macht sich ein “Tim Burton für Kids”-Feeling breit, und gelegentlich hat das Ganze schon mal etwas von “Krimi für Große”, zumal es mitunter auch mal scheppern und gar knallen kann und schon einmal die ein oder andere Waffe gezückt wird. Aber so ist es eben mit den Gaunern – die nehmen auch bei guten Kinderbüchern keine Rücksicht und werfen deshalb nicht unbedingt bloß mit faulen Eiern, damit der “peace, love & understanding”-Pädagoge nichts zu meckern hat. Soll er sich doch zu Tode ärgern, dann hat Harold wenigstens eine neue Seele für sein Schmetterlingsnetz!
Die Figuren, welche herrlich liebevoll und schräg von Fréderic Bertrand illustriert wurden und sich auch zahlreich, aber wohldosiert, durch das gesamte Buch ziehen, erhöhen den Lesespaß, ohne das Druckwerk zu dominieren. Vielmehr wird nur alle paar Seiten eine etwas größere, passende Illustration platziert, ansonsten flattert Vincent einfach mal auf einer Seitenecke umher, um das Layout aufzulockern. Sowieso: Wer auch als Erwachsener nicht mindestens grinsen muss, wenn er schon alleine das Buchcover sieht, muss schon ganz schön griesgrämig unterwegs sein.
“Scary Harry – Von allen guten Geistern verlassen” ist endlich mal wieder ein Kinderbuch jenseits (sic!) der erzieherischen Normen und tut lediglich eines: Unterhalten. Ohne “Sowas macht man nicht!” und ohne “Das ist böse, das gehört sich nicht!”, ohne “Du musst aber…!” und ohne “Schau mal, so ist’s richtig!”. Sicherlich spielen hier auch Gerechtigkeit und Freundschaft eine Rolle, doch niemals plakativ und schon mal gar nicht mit gen Nasenspitze geschobener Oberlehrerbrille.
Cover/Artwork © Loewe Verlag, gezeichnet von Fréderic Bertrand
- Autor: Sonja Kaiblinger
- Illustrator: Fréderic Bertrand
- Titel: Scary Harry – Von allen guten Geistern verlassen
- Band der Reihe: 1
- Verlag: Loewe Verlag
- Erschienen: 07.10.2013
- Einband: Hardcover mit Prägedruck
- Seiten: 240
- ISBN: 978-3-7855-7742-4
- Sonstige Informationen:
Erwerbsmöglichkeit
Wertung: 13/15 dpt