Der lernende Kontinent – Europa und die Nationalstaaten
“Europa ist eines der wichtigsten, ja das Kernthema, der anstehenden Legislaturperiode.” Brav exklamiert, Frau Merkel. Und schaut man sich den Wahlkampf der vergangenen Wochen und Monate an, muss man ganz eindeutig konstatieren: Ja, Europa war das beherrschende Thema. Noch nie zuvor wurde so intensiv über die unterschiedlichen Ideen, Visionen und Pläne in Sachen Europäischer Einigung gesprochen wie in den Sommer- und frühen Herbstmonaten. Natürlich, absolut berechtigt, die Verleihung des Friedensnobelpreises hat der Idee eines wirtschaftlich und kulturell verbunden Staatenbundes neuen Auftrieb gegeben, sodass heute allen klar sein sollte, Europa ist nicht nur die lustlos als “Alternativlos notwendige Entwicklungsrichtung” bezeichnete Staatenunion, Europa ist ein Projekt, das uns Bürger mit unserem tiefen Demokratieverständnis begeistert hat und eine neue Welle des politischen Engagements in die Wege geleitet hat. Europa lebt von, durch und mit den Menschen, die diesen Kontinent bevölkern – und deshalb werden sie zunehmend entmündigt, indem die Europäische Idee auf die kleinsten gemeinsamen und aussagelosesten Nenner gebracht werden, die die eine oder andere Folkloreaktion berechtigen und jedes Nachdenken über politisches Gebaren im Keim ersticken. Und ja natürlich: “die faulen Südstaaten”. Griechenland ist Schuld – die Macht geht vom Volke aus, man hätte dieses Demokratisierungsprojekt vor 4000 Jahren schon im Keime ersticken sollen – natürlich erst, nachdem es einen Führer demokratisch an die Macht herangeführt hat . Victor Orban könnte so einer sein – vermutet, behauptet und begründet der ungarische Schriftsteller György Konrád in seinem im Frühjahr 2013 erschienenen Essay “Europa und die Nationalstaaten”. Und er fragt: »Hat sich schon mal jemand gefragt, wie es einem so – wirtschaftlich – unbedeutenden Land gelingen kann, eine ganze, vergleichsweise riesige Wirtschaftsmacht wie den europäischen Binnenmarkt derart in Bedrängnis zu bringen?«
Und jetzt ohne Ironie!
Womöglich liege es an einer Fehlkonstruktion beziehungsweise an einer Konstruktion, die durchaus auch mal ihre Berechtigung hatte, bei der es aber versäumt wurde, sie den aktuellen Entwicklungen und Gegebenheiten anzupassen. Außerdem liege es an einem Festhalten am Konzept der Nationalstaaten, einem Konzept, das in letzter Konsequenz das Prinzip der Demokratie blass aussehen lässt. Und dies, weil es am Mut nationalstaatlich und demokratisch legitimierter Regierungen fehlt. Was für ein Mut? Nun, den Mut, ihre Bevölkerungen mit etwas zu behelligen, was nicht in ein Dekolleté, auf eine volkstümliche Halskette oder auf einen Stinkefinger passt. Nein, ein Großteil der Politik und der Journaille hält ihre Wähler und Leser schlichtweg für unmündig und zu blöd, etwas Komplexes wie Europa zu verstehen und ihnen entsprechend aufhellende Artikel zu liefern. Nur so ist es möglich, dass Straßenkehrer wie die von der AfD ihre Müllsäcke mit Forderungen wie “zurück zur DM” vollbekommen. Nun sei es all jenen, die glauben, dies sei der richtige Weg, unbenommen, dafür zu argumentieren – nichts sollte halbwegs klugen Menschen ferner liegen, als sich in Alternativlosigkeiten zu ergehen. Es gibt sie immer, die Alternative, und man sollte mit Argumenten streiten dürfen und sollen, was denn nun der bessere Weg sei.
Alles, nur bitte keinen Gründungsmythos – Gegen eine eschatologische Utopie
“Der lernende Kontinent” – vielleicht war es Peter Sloterdijk, der dieses Konzept einer utopischen, aber dem Realismus und Rationalismus verhafteten Europaidee in seinem schmalen aber umso gedankenreicheren Essayband “Falls Europa erwacht” vorbrachte. Mit Leben ausgefüllt hat dieses Konzept György Konrád mit seinem Essay “Europa und die Nationalstaaten”, ebenfalls bei Suhrkamp erschienen. Die Idee eines großen Europas ohne eigene nationalstaatliche, höchstens noch regionale Regierungen im Sinne unseres föderalen Systems, hat zweifellos noch immer sehr utopische Elemente. Und es gibt auch zahlreiche Beispiele dafür, warum diese Idee von Beginn an zum Scheitern verurteilt wäre. Aber – und das unterscheidet Konráds Europa-Einlassungen von vielen anderen: Er negiert einen zwar oft geforderten und beschworenen, aber nicht-existenten Gründungsmythos. Dieser wäre doch nur konstruiert und oktroyiert. Das viel wichtigere Ziel wäre es doch, so Konrád, zu eruieren, was denn diese europäischen Staaten zusammengehalten hat, was die Triebfeder dafür war, nach all den Verwerfungen nicht zuletzt der Weltkriege, einander die Hände zu reichen und zu sagen, »Okay, kommm lass es uns noch mal versuchen, halbwegs friedlich, freundlich miteinander und nebeneinander zu leben« – und hier hat Konrád den sehr sympathischen Gedanken aufgegriffen, Europa als “Lernendes Subjekt” zu begreifen. Hiermit kreiert und favorisiert er, der jahrzehntelang unter dem Unbill eines diktatorischen Systems gelebt und dennoch publiziert hat, eine rationalistische Utopie, die im Gegensatz zu den millionenfach umherschwirrenden gutmenschlichen Ideen eines perfekten Staates, Utopia, eines Schlaraffenlandes, in dem die Geschichte an ihr Ende gekommen ist, ihre Vollkommenheit erreicht hat und paradiesische Zustände herrschen – bis ans Ende aller Zeiten.
“Der Kluge denkt föderal – der Dumme national”
So lange eine auch nur im Entferntesten davon abgeleitete Vision existiert und in den europäischen Köpfen herumschwirrt, wird Europa als idée fixe nur für Kopfschütteln sorgen. Europa krebst damoklesschwertgleich über der Politik und den Bürgern. Mal als Fremdkörper, mal als Feind, der alles verbietet, dann wieder als Freund, der vor Abzocke schützt. Doch man darf nicht vergessen: Die Institutionen, die wir eigentlich meinen, wenn wir von Europa reden, sind selbst gefangen zwischen immer noch starken nationalen Interessen, die eine wirkliche europäische Politik verhindert. Man lese hierzu auch mal Robert Menasses Europa-Essay “Der europäische Landbote”. »Europa kann doch nationale Interessen nicht angemessen berücksichtigen«, so heißt es immer wieder, wenn es darum geht, dem Europäischen Parlament zusätzliche Bestimmungsrechte in der Legislativen zu geben. Doch mal ganz ehrlich: Diese Fragen stellen unisono Menasse und eben auch Konrád: »Was genau wären denn nationale Interessen, die beispielsweise nicht auch für den europäischen Raum gelten könnten?« Hier kann mal jeder mit sich selbst einen Dialog führen. Der Coup des “Umweltministers” Altmeier, fast im Alleingang die Beschränkung der CO2-Werte für Autos zurückzunehmen, wurde falsch verstanden als Agieren in rein deutschem Interesse. Nein, er hat im Sinne aller europäischer Autobauer gehandelt, gewollt oder nicht – und dafür nur vergleichsweise läppische 690.000 Euro von den BMW-Eigentümern erhalten. Auch wenn Herr Altmeier das nicht hören mag und erst recht nicht in einem kausalen Zusammenhang sehen möchte: Er hat keinesfalls nationalstaatliche Interessen durchgesetzt, wie er selbst das glaubt, sondern auch in einem anderen Sinn sehr deutlich im Interesse von BMW entschieden, denn BMW ist mindestens einen Schritt weiter als die deutsche Bundesregierung: BMW denkt schon lange nicht mehr nationalstaatlich. Man möge mindestens einen wichtigen Aspekt aus den Themen Wirtschaft, Kultur und Privatleben ausfindig machen, der nicht den Bereich des nationalstaatlichen übersteigt. Auch die Politik tut dies – nur, sie verschweigt es all zu gerne.
Die Idee der Nationalstaaten und eines nationalstaatlichen Verbunds, wie er im Sinne der “Vereinigten Europäischen Staaten” immer mal wieder diskutiert wird, gehört sicher nicht mehr die Zukunft. Heute schon sind die meisten Staaten multinational – der Konnex obsolet. Konrád regt ein streng Föderalistisches Modell an, das an ein “Europa der Regionen” erinnert, und das sinnvollere Gemeinschaften bildet als es nationale Grenzlinien könnten und so, so seine Hoffnung, neue diskursive Impulse liefern könnte. Seine Losung lautet daher: »Die vernünftigen sind Föderalisten, die weniger Klugen Nationalisten« Das mag zwar sehr krass und allzu ausgrenzend stigmatisierend sein – doch steckt dahinter ein Gedanke, den es gelte, nicht nur in einem Dialog mit dem Buch zu führen, sondern ihn auch in die gesellschaftliche Debatte einzubringen. Angela Merkel, von der der erste Satz dieses Textes stammt, könnte sich mal an ihre Aussage erinnern und Europa, jenseits von Rettungspaketen zum Thema ihrer Legislaturperiode machen. Es bliebe daher nur der Wunsch, dass sie in der SPD diesmal keine “unzuverlässigen Partner in Sachen EU” findet, sondern realistisch die Fragestellungen angeht – Bücher wie dieses könnten zahlreiche Impulse liefern!
Wohin mit dem Wutbürger? – Hin zum Mutbürger!
György Konrád gelingt ein furioser Essay, der das Problem nationalstaatlichen Denkens umkreist, der erfreulicherweise nicht zu endgültigen Antworten gelangt, aber die richtigen Fragen stellt. Wie die Antworten dazu lauten? Nun, dazu bedarf es neben Büchern dieser Art, informierte und interessierte Bürger, die bestenfalls nicht allein dem Wutbürgertum verpflichtet sind, sondern sich eines “Mutbürgertums” verpflichtet fühlen. Wer weiß?! Ein riesiger Verdienst dieses Buches ist auch die Erinnerung Konráds an das grundierende demokratische Wesen unserer Gesellschaft, das es zu verteidigen gilt. Es ist ein harter Brocken, den uns Konrád vorsetzt. Die Grundlage seines Essays sind natürlich auch die ungarischen Entwicklungen in den vergangenen Jahren, die man sich als nicht-Ungar erst wieder in Erinnerung beziehungsweise ins Bewusstsein rufen muss, doch die Mühe lohnt. Dem Autor auf seinen Gedankengängen zu begleiten ist fordernd, aber auch lohnend und erhellend. Nicht jede Idee freilich ist zustimmungswürdig, doch die Fragen und Impulse sind es allemal.
Cover © Suhrkamp Verlag
- Autor: György Konrád
- Titel: Europa und die Nationalstaaten
- Originaltitel: Európa és a nemezetállamok
- Übersetzer: Hans-Henning Paetzke
- Verlag: Suhrkamp
- Erschienen: 2013
- Einband: Broschiert
- Seiten: 183
- ISBN: 378-3-518-42371-4
- Sonstige Informationen:
Produktseite bei Suhrkamp
Wertung: 14/15 dpt
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